Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
Dabei wiegt er mich leicht hin und her, wie ein kleines Kind, und stützt sein Kinn auf meinem Kopf ab. An dem Brummen in seiner Brust kann ich erkennen, dass er redet. Was, kann ich nicht verstehen, weil mein Geschluchze so laut ist, aber ich glaube, er spricht mit Tilda.
An alles Weitere kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Ich habe Stephan den ganzen Weg bis zum Bahnhof nicht losgelassen. Im Zug habe ich mein erhitztes Gesicht, an dem sich die Muster von Stephans Strickpulli abzeichneten, an die kühle Fensterscheibe gelehnt und dem immer dichter werdenden Schneetreiben zugesehen. Stephan und Tilda haben vor dem Abteil auf dem Flur gestanden und sich mit gesenkter Stimme gestritten, weil ihr seine Tröstaktion nicht gefallen hatte. Gegenüber von mir saß Nina, die die ganze Zeit hilflos mein Knie gestreichelt hat. Caruso knabberte besorgt an meiner Hand, und Andy hat Caruso gekrault, um ihn von mir abzulenken. Und Jan hat mich mit dieser Sorgenfalte zwischen den Augen angesehen und unruhig auf seiner Unterlippe herumgekaut. Zumindest habe ich das dank der Spiegelung in der Fensterscheibe beobachten können. Ein Königreich für seine Gedanken.
Stunning-Looks-Ausgabe 26
Cover: Alexa Chung
Kolumne: ›Papergirl findet, dass …‹
Heute: ›… verliebte Frauen scheinbar kurzzeitig ihr Gehirn ausschalten.‹
Liebe Stunning-Looks-Leserinnen,
Frauen haben ihren Stolz, keine Frage. Und unser Stolz ist auch nicht so leicht verwundbar wie der eines Mannes, der ja bei jeder Kleinigkeit verletzt zu werden droht. Aber es gibt eine Ausnahmesituation, in der wir unseren Stolz urplötzlich vergessen und uns (ganz gegen unseren Willen) immer und immer wieder aufs Neue zum Horst machen: Nämlich wenn wir verliebt sind. Es gibt nichts kopf- und vernunftloseres auf der Welt als eine Frau, die sich bis über beide Ohren in einen Mann verschossen hat.
Plötzlich ist völlig irrelevant, ob wir heute die roten Riemchenpumps oder doch lieber die schwarzen Espadrilles anziehen sollen oder wie wir noch eines der Stücke aus der Jimmy-Choo-Kollektion für H&M ergattern können, ohne dafür über Leichen gehen zu müssen. Es gibt auf einmal nur noch eine zentrale Frage in unserem Leben: Warum ruft ER nicht an? Wie kann er an unseren Haaren schnuppern, uns bis zur absoluten Besinnungslosigkeit küssen und uns immer wieder beteuern, dass wir für ihn die schönste Frau der Welt sind, uns aber dann tagelang zappeln lassen und sich nicht mehr melden? Wie kann es sein, dass wir nicht mehr schlafen und nicht mehr essen können, weil die Gefahr zu groß scheint, für einen kurzen Moment unser Handy aus den Augen zu lassen, sich für ihn die Welt aber ganz normal weiterdreht? Wie kann er nicht vor Sehnsucht nach uns sterben, weil sein Kopfkissen noch nach unserem Parfüm riecht, wenn wir schon lange wieder weg sind, oder wenn er einen Song im Radio hört, der auch lief, als wir uns das erste Mal in seinem Auto geküsst haben? Wie schafft er es, auf unsere SMS länger als zehn Minuten nicht zu antworten, während wir schon eine Antwort tippen, kaum dass wir seine Nachricht gelesen haben? Wie kann Mann seinem normalen Arbeitsalltag nachgehen, während wir an unserem Schreibtisch sitzen, verträumt aus dem Fenster starren und uns Namen für die gemeinsamen Kinder ausdenken? Dabei hängen wir seinen Nachnamen an unseren Vornamen und befinden die Kombination für perfekt – und gehen im Kopf alle gemeinsamen Momente der letzten Wochen wieder und wieder durch, freuen uns nachträglich über seine Komplimente und analysieren jede seiner Gesten bis ins kleinste Detail. Und warum kann er uns im Gegenzug gefühlte Ewigkeiten nicht vor seinen Freunden erwähnen, während uns Frauen die ganze Welt sofort an unserem debilen Dauergrinsen ansieht, dass wir total verknallt und nicht im Besitz unserer geistigen Kräfte sind?
Wenn wir Frauen verliebt sind, begnügen wir uns jedoch nicht damit, diesen Zustand zu genießen, so wie es unsere männlichen Vertreter zu tun pflegen. Nein, wir häufen uns jede Menge neuer Probleme auf. Beispiel gefällig? Wir wollen ihm unsere Unabhängigkeit demonstrieren – wollen ihm zeigen, dass wir nicht auf ihn angewiesen und als Frau von Welt sowieso viel zu beschäftigt sind, um uns mit ihm zu treffen. Also müssen möglichst viele Termine her, mit denen wir unseren Kalender füllen. Das Problem? Was, wenn wir tatsächlich eine wichtige Verabredung mit der Freundin, der Nagelfee oder dem
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