Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
Caruso und ich. Warum? Weil es gestern das erste Mal geschneit hat. Verzückt hatten wir beobachtet, wie die kleinen weißen Flocken wie Federn durch die Luft schwebten; Andy und Jan am Küchenfenster ihrer WG, Stephan auf dem Weg zu Tilda, Nina aus ihrem Agenturbüro und ich und Caruso im Englischen Garten beim Gassigehen. Und wie jedes Jahr, wenn der erste Schnee fällt, schrieben wir uns alle fast zeitgleich eine SMS mit dem Inhalt: »Wird Zeit für den besten Glühwein Bayerns.« Und deshalb befinden wir uns jetzt auf dem Weg nach Regensburg, denn auf dem Weihnachtsmarkt im Schloss Thurn und Taxis gibt es genau den. Und jedes Jahr fahren wir dorthin, um uns einen Becher Blaues Blut oder Prinzentrunk zu genehmigen. Man gönnt sich ja sonst nichts.
»Du könntest mal eine Kolumne über die Bahn schreiben«, schlägt Nina vor, als ein muffeliger Schaffner mit hängenden Mundwinkeln unsere Tickets entwertet.
»Ach, über die Deutsche Bahn ist doch schon so viel geschrieben worden«, entgegne ich.
»Ihr wollt aber nicht in den Arkaden bummeln gehen, oder?«, fragt Stephan, Böses ahnend.
»Als ob wir Mädels ständig am Shoppen wären!«, verteidige ich mich und Nina.
»Genau! Letztes Jahr wart ihr es doch, die stundenlang bei MediMax rumgehangen und Sneakers bei Runners Point anprobiert habt!«, bestätigt Nina.
»Ich mein ja nur, weil wir diesmal relativ spät losgefahren sind«, sagt Stephan. »Vielleicht sollten wir uns einfach gleich auf den Weg zum Schloss machen.« Vielleicht hätte seine Tilda einfach ein paar Stunden weniger für ihr Styling einplanen sollen. In der Zeit hätte man garantiert eine komplette Geschlechtsumwandlung durchführen können. Wider Willen werfe ich ihr einen missbilligenden Blick zu. Dann bemerke ich, dass mich Jan angrinst. Er weiß wieder mal genau, was ich gerade gedacht habe.
Eine halbe Stunde später schiebt sich unsere Clique aus dem Regensburger Bahnhof und gemeinsam mit vielen anderen Leuten die gewundene Straße zum Schloss hinunter. Wir reihen uns in eine Schlange an einem der Kassenhäuschen ein.
»Nina könnten wir locker für den Kindertarif durchmogeln«, frotzelt Andy und spielt damit auf ihre zwergenhafte Körpergröße von 1,57 Meter an. Ich drehe mich um, um mich notfalls vor ihn werfen zu können, sollte meine Freundin an seinen Hals zu springen versuchen, denn für gewöhnlich versteht sie bei Witzen über ihre Größe keinen Spaß.
Doch zu meiner großen Verwunderung lächelt sie Andy an und sagt mit seidenweicher Stimme: »Und du siehst so alt aus, dass du locker den Seniorentarif bekommen würdest.« Während ich über ihre plötzlich zahme Art nur staunen kann, schlägt ihr Stephan auf die Schulter und lacht sich über Andys überrumpelten Gesichtsausdruck halb tot.
Wir passieren den Eingang und gehen über den knirschenden Kies in den Schlossgarten. Die Wege sind von Fackeln gesäumt, die eine heimelige Atmosphäre verbreiten, und von den Buden des Weihnachtsmarktes weht der Duft süßer und herzhafter Fressalien zu uns herüber. Wir sind noch keine zehn Minuten da, da haben die Jungs schon Bratwurstsemmeln in den Händen.
»Drehen wir erst eine Runde, bevor wir uns an den Glühwein machen?«, frage ich, und nach zustimmendem Nicken meiner Begleiter bummeln wir über den Vorplatz und durch den Innenhof, der an Gemütlichkeit und Romantik kaum zu übertreffen ist. An einem der Häuschen machen wir uns dann auch über unseren Glühwein oder unsere Feuerzangenbowle her, geschützt von den dicken Schlossmauern und unter den wachsamen Blicken eines großen grauen Steinlöwen. Dann trennen wir uns kurzfristig, damit jeder seinen eigenen Interessen nachgehen kann. Bei meinem Rundgang gönne ich mir eine Waffel, beobachte Stephan, wie er seiner quietschenden Tilda eine Kette an einem der vielen Stände kauft, und flaniere an den hell erleuchteten Schlossfenstern vorbei, um zu sehen, ob die Fürstin zu Hause ist und vielleicht zwischendurch einen zufriedenen Blick auf ihren wohlgeratenen Weihnachtsmarkt wirft. Als es dunkel wird, beschließe ich, mir noch einen alkoholfreien Prinzentrunk zu holen. Ich setze mich samt Becher mit Caruso auf eine der hölzernen Bänke an einem knisternden Lagerfeuer.
»Na, ihr zwei.« Jan setzt sich neben mich, einen Spieß mit Schokofrüchten in der Hand.
»Na.« Ich überlege kurz, ob ich ein Stück rutschen sollte, aber mir gefällt seine Nähe und ich bleibe still sitzen.
»Hast du Nina und Andy gesehen?«, fragt Jan mit
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