Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
meinen Tag gerettet!
Dafür ist der Aufprall auf dem harten Boden der Realität umso grausamer, als wir das Kino wieder verlassen, ich dem Lärm der anderen Leute und dem eisigen Wind des Winters ausgesetzt bin und von der kunterbunten Phantasiewelt nur grauer Matsch auf dem Bürgersteig übrig bleibt. Plötzlich ist da wieder dieses nagende Gefühl im Bauch wegen Jan, und das schrecklichste Silvester meines Lebens rückt wieder in greifbare Nähe. Außerdem sitzen mir der Abgabetermin für die nächste Kolumne und das konstante Gefühl, nicht gut genug für Evelyn Kern zu sein, im Nacken.
Vielleicht habe ich Glück, und morgen geht endlich mal zum Jahreswechsel pünktlich um 24 Uhr die Welt unter, so wie es jedes Jahr aufs Neue von irgendeiner Sekte oder einem schlauen Wissenschaftler vorausgesagt wird! Meinen persönlichen Beitrag zum Unglück der Welt habe ich immerhin geleistet, nämlich jede Menge Kettenbriefmails zu Silvester unbeantwortet gelassen und auch schon die düsteren Prognosen einiger Scientologen in der Innenstadt trotz ihres erhobenen Zeigefingers einfach mit einem höflichen Lächeln quittiert. Aber ich glaube nicht, dass man mir diesen Gefallen dieses Jahr tun wird. Selbst den Wechsel ins Jahr 2000 hatte der Planet Erde ganz entgegen aller Hiobsbotschaften heil überstanden und sich nicht in einer galaktischen Staubwolke aufgelöst. Es landeten auch keine Aliens vor dem Weißen Haus in Washington, um uns dusseligen Menschen ihre Diktatur aufzudrücken, und es hat bei mir zu Hause auch weder den Computer zerlegt noch andere technische Gerätschaften, die Probleme mit den vielen Nullen des neuen Jahres hätten haben können. Lediglich mein Handyakku war wieder mal leer gewesen, weshalb ich und mein Exfreund auf unserer romantisch eingeschneiten Berghütte den Jahreswechsel aufgrund des Uhrenmangels noch nicht einmal mitbekommen hatten. Shit happens.
Dieses Jahr gehe ich mit Nina und den Jungs in den MPARK, um Silvester zu feiern, gute Laune und partywütige Menschen an jeder Ecke inklusive. Und dabei werden die Worte »Frohes neues Jahr!« in meinen Ohren nach purer Ironie klingen. Vielleicht sollte ich einfach im Bett bleiben, fettige Pizza aus dem Karton essen, einen Liter Pepsi trinken, mir schnulzige Filme auf DVD ansehen und dann Mitternacht einfach verschlafen? Egal – beide Fälle würden ein perfektes Worst-Case-Szenario abgeben.
Mein Bruder steht in der Küche und kocht für mich (das einzige Gericht, das er kann, nämlich Fischstäbchen mit Spinat und Kartoffelbrei). Caruso sitzt neben ihm und himmelt ihn an, als ich mich zu den beiden geselle, mich neben Moritz auf die Anrichte hocke und ihm beim Brutzeln zusehe.
»Mama hätte dir ruhig ein paar mehr Rezepte beibringen können als das Anbraten tiefgefrorener, panierter Fischabfälle. Ich versteh echt nicht, wie du als Junggeselle überleben kannst«, bemerke ich und reibe ein wenig Muskat in den Spinat. Mein Bruder grinst nur gelassen und stampft in den Kartoffeln herum.
»Ich habe nette Freunde, die für mich kochen und bei denen man sich wunderbar selbst einladen kann. Und dann gibt es noch den Pizzadienst, den kleinen Chinesen um die Ecke, die Dönerbude zwei Blocks weiter und die alte Frau Scholer, die mir immer wieder leckere Aufläufe oder Hackbraten vorbeibringt, weil ich sie an ihren Enkel erinnere. Ich komm also prima über die Runden und muss nicht verhungern.« Er zwinkert mir zu.
»So siehst du auch nicht aus«, necke ich Moritz und kneife ihm in den Hüftspeck, kriege aber kaum was zu fassen. »Trotzdem würde dir eine Frau im Haushalt nicht schaden.«
»Mann, du klingst schon wie Mama!« Er verdreht die Augen.
»Ja, ich weiß. Deswegen sag ich’s ja.« Ich rempel ihn freundschaftlich in die Seite und stehe auf, um den Tisch für uns zu decken. »Mir wirft sie ständig vor, dass ich sowieso keinen Mann finden werde, weil ich so schrecklich kompliziert bin. Und sie erzählt mir immer wieder, wer in ihrem Bekanntenkreis schon alles Oma geworden ist. Ich wäre dir also sehr dankbar, wenn du sie ein wenig von mir ablenken und sie mit einer reizenden Schwiegertochter beglücken könntest.«
»Mal sehen, was sich machen lässt«, verspricht mein Bruder und lässt die Fischstäbchen zischend ins heiße Öl gleiten.
»Sag mal, kann ich mir heute Abend vielleicht dein Auto leihen?«
»Wozu?«
»Ach, nur so.«
»Ja klar, für ›nur so‹ kannst du mein Auto immer haben.« Er fischt die Autoschlüssel aus seiner
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