Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
Jeanstasche und wirft sie mir zu. »Aber dass du mir den Wagen heil wieder zurückbringst, klar? Und nicht vergessen: danach wieder volltanken!« Moritz macht ein vielsagendes Gesicht.
»Warum?«, frage ich unschuldig.
»Ach, nur so.«
In Wahrheit wissen wir beide ganz genau, wozu und warum. Wenn ich allein sein will oder wenn ich über etwas nachdenken muss, dann wasche ich entweder Wäsche, starre für eine Ewigkeit in den wirbelnden Schaum und lausche dem monotonen Spülen, Pumpen und Schleudern – oder ich fahre eben Auto. Einfach nur so durch die Nacht, höre laut Musik, und mit dem Dahingleiten des Autos bewegen sich auch plötzlich meine Gedanken. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich auf diese Weise das Benzin meines Bruders verfahre, deshalb auch unsere kryptische Übereinkunft.
Als ich jetzt in den Sitz seines schwarzen Audi TT sinke, den Zündschlüssel ins Schloss stecke und sich das Auto mit kehligem Knurren für seine Spazierfahrt bereitmacht, spüre ich bereits die ersten Anzeichen purer Entspannung in mir aufsteigen. Nur wenige Minuten später schlängle ich mich durch den dichten Verkehr der nächtlichen Großstadt, bahne mir den Weg hinaus, und irgendwann finde ich mich auf der Autobahn wieder. Absolute Dunkelheit umfängt mich, nur die Lichter der entgegenkommenden Autos blitzen immer wieder auf, zischen an mir vorüber und sind einen Wimpernschlag später schon wieder verschwunden. Der Wagen gleitet schnurrend dahin – 140, 150, 160, 170, die Tachonadel schlägt nach rechts aus, immer höher, immer schneller. Und plötzlich bin ich ganz ruhig, und meine Gedanken lassen sich endlich fassen und anstandslos von allen Seiten betrachten, um ihnen auf den Grund zu gehen. Normalerweise höre ich im Auto die gleiche Musik wie immer, Queens of the Stone Age, Kings of Leon oder Vast. Aber wenn ich nachts durch die Dunkelheit fahre, nämlich einzig und allein, um mir über einiges klar zu werden, dann müssen es ruhige Sachen sein. Am besten Songs, die zu meinen Gedanken passen. Wie zum Beispiel Liebesbrief von Thomas D. Wieder und wieder und wieder.
Irgendwann lenke ich den Wagen in eine Tiefgarage, ziehe den Schlüssel, und die Musik bricht ab. Plötzlich ist es absolut still. Ich steige aus und bin am Flughafen. Denn immer, wenn mir die Welt wie ein Goldfischglas vorkommt, in dem nur ich allein schwimme, dann fahre ich zum Flughafen. Nirgendwo sonst wird mir die Lächerlich- und Nichtigkeit meiner eigenen kleinen Welt so deutlich wie im Vergleich zu den vielen anderen Schicksalen und Orten da draußen.
Pärchen, die sich nach scheinbar endloser Zeit wieder in die Arme schließen dürfen. Eltern, die ihre flügge gewordenen Kinder für ein Jahr ins Ausland verabschieden. Fröhliche Familien, die sich den ersten gemeinsamen und wohlverdienten Urlaub leisten können. Einsame und abgespannte Stewardessen, die nur wenige Stunden fernab von zu Hause in einem der vielen anonymen Hotelzimmer schlafen werden und dabei für kurze Zeit ihr zuvorkommendes Lächeln absetzen, die stechenden Haarnadeln aus ihrer Frisur lösen und ganz sie selbst sein dürfen, nämlich menschlich und fehlerhaft.
Überall klappern Absätze, klackern die Rollen der Reisetrolleys, tönen Durchsagen aus Lautsprechern oder surren Düsen von startenden und landenden Flugzeugen.
Ich bummle durch Zeitschriften- und Souvenirshops, studiere die Ankunfts- und Abreisetafeln und suche mir Wunschziele aus, zu denen ich spontan fliegen und wo ich alles hinter mir lassen könnte, fahre mit den Rollbändern von einem Terminal zum anderen oder setze mich auf eine der Wartebänke, um die Passagiere zu beobachten, die gerade gelandet sind und mit ihrem Gepäck in den Eingangsbereich strömen. Dieses Flugzeug hier kommt aus New York, die Menschen haben eine lange Reise hinter sich, und an ihren müden Gesichtern erkennt man den strapaziösen Flug: die Ränder ihrer Schlafbrillen, die durchgestandene Angst wegen der vielen Luftlöcher, die Wehmut wegen des Abschieds von einem sehr schönen Ort oder die unbändige Freude über das Wiedersehen mit schmerzlich vermissten Menschen.
Irgendwann stehe ich auf und mache mich auf den Weg zurück in die Tiefgarage, setze mich ins Auto und fahre nach Hause. Mein Zuhause, in dem zwar kein Freund auf mich wartet, dafür aber mein treuherziger Hund, mein extra wegen mir angereister großer Bruder, ein Anrufbeantworter voll gut gemeinter Ratschläge meiner Mutter, meine ertränkten Zimmerpflanzen, der viel zu
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