Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
noch enger an ihn zu schmiegen schien und mir provokante Blicke zuwarf. Ich versuchte, das innere Stechen, welches dieser Anblick bei mir verursachte, geflissentlich zu ignorieren, und stellte mich neben Stephan an den Tresen, um Tequila für mich und meinen grippalen Infekt zu ordern.
»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte Stephan, ohne die Miene zu verziehen.
»Alles, was zählt, ist, wie ich diesen Horrortrip möglichst schnell hinter mich bringe! Und wenn mir mexikanischer Schnaps dabei helfen kann, dass sich die Zeiger meiner inneren Uhr heute Abend schneller drehen, dann ist mir das die Sache wert! Und vielleicht verwandelt sich dabei diese hinterlistige Schlange Julia auch noch in einen dicken rosa Elefanten«, antwortete ich entschieden, prostete Stephan zu und kippte dann den Tequila hinunter. Mein Kumpel legte mir tröstend die Hand auf die Schulter, zog mich und meinen Barhocker ein Stückchen näher an seinen heran und versuchte, sich wieder in das Gespräch der anderen einzuklinken. Der Schnaps brannte in meinem wunden Hals wie Flammen, und ich konnte förmlich spüren, wie die Grippeviren verzweifelt nach dem Feuerlöscher zu suchen begannen. Beim zweiten Tequila schienen sie schließlich fluchtartig das Gebäude zu verlassen und sich ein anderes Opfer zu suchen. Ich hoffte insgeheim, dass sie sich bei Jan und Julia einnisten und sich dort spontan in eine unappetitliche Geschlechtskrankheit verwandeln würden.
Irgendwann bemerkte ich, dass immer mehr Leute an der Theke Sekt oder Champagner bestellten und die Menschen begannen, zu den Ausgängen zu strömen. Es schien also kurz vor Mitternacht zu sein. Wow, ich konnte noch Schlüsse ziehen, also konnte es mir gar nicht so schlecht gehen.
»Komm, Vicky, wir gehen raus. Es ist gleich zwölf«, meinte Stephan und versuchte, mir aufzuhelfen. Ich bemerkte, dass es schwer geworden war, meinen Blick zu koordinieren. Endlich fand ich sein Gesicht – er sah mich abwartend an. »Draußen könnten wir das Feuerwerk angucken. Aber vielleicht solltest du lieber drinnen bleiben. Nicht, dass es dir zu kalt wird.«
»Ach was … Wo sind denn die anderen?«, fragte ich, nachdem ich meine schwer gewordene Zunge vom Gaumen gelöst hatte.
»Dein Bruder ist seine letzte Zigarette rauchen gegangen, du weißt ja, wegen seiner Vorsätze fürs neue Jahr …« Er grinste. »Und Andy und Nina stehen im Eingangsbereich und haben ihren ersten großen Beziehungsstreit.«
»Warum denn das?«, lallte ich erstaunt.
»Weil Andy nicht wirklich begeistert darüber gewesen ist, wie gut sich Nina mit Moritz verstanden hat …«
»Hm. Und wo ist dieser Mistkerl mit seiner selten hässlichen Seekuh?« Gott sei Dank wusste ich, dass Stephan klar war, wen ich damit meinte. Er holte tief Luft und machte dann eine Kopfbewegung nach rechts. Ich sah in die angedeutete Richtung und entdeckte Jan, eng umschlungen mit Julia und sich schon mal für den Mitternachtsgongschlag warmküssend. Der Boden unter mir begann bedrohlich zu schwanken, mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und meine Arme wurden von einer ausgewachsenen Gänsehaut überzogen.
»Ich glaube, ich bleibe lieber drinnen«, ächzte ich und tastete nach dem Tresen, um mich an ihm festhalten zu können.
»Soll ich lieber bei dir bleiben?«, fragte mein Kumpel besorgt und stützte mich vorsichtshalber.
»Nein, geh ruhig zu den anderen. Es ist ja wahrscheinlich gleich so weit«, schickte ich Stephan Richtung Ausgang.
Irgendwie schnürte es mir die Luft ab – als würde plötzlich meine Korsage enger und enger. Schweiß brach aus jeder Pore meines Körpers aus, und alles um mich herum begann sich zu drehen. Als es vor meinen Augen auch noch zu flimmern begann, wurde mir ganz schrecklich übel, und von irgendwoher nahm ich das verzerrte Herunterzählen eines Countdowns wahr. Mist, irgendwie hatten mich diese verdammten Grippeviren trotz Tequila doch wiedergefunden. Wenn mir sonst schon keiner treu war, der grippale Infekt war es auf jeden Fall. Am liebsten hätte ich dem Drang nachgegeben und mich aus meinem einzwängenden Oberteil befreit, welches inzwischen klaustrophobische Zustände bei mir hervorrief: Ich wollte aber die Nacht nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses im Knast verbringen.
In meinem Kopf drehte sich alles wie verrückt. Bild- und Wortfetzen aus meiner Erinnerung wirbelten wild durcheinander, dabei leuchteten immer wieder vereinzelte Fragmente flüchtig auf, wie ein nass geregnetes Papier,
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