Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
das vom Wind hochgerissen und dann gegen eine Fensterscheibe gedrückt wird. Da war kurz Jans strahlendes Gesicht, dann sein Herzschlag, als er mich an seine Brust zog, um mich zu trösten, seine Worte und sein Brief, und auf einmal schob sich ganz langsam Julias fies grinsendes Gesicht dazwischen …
Plötzlich war da wieder der Countdown. »5 …, 4 …, 3 …,« Das Flimmern vor meinen Augen wurde stärker. »2 …, 1 …«
Und um Punkt Mitternacht wurde ich zu den Beats von »Single Ladies« von Beyoncé ohnmächtig. Klar, dass ich das als schlechtes Omen fürs neue Jahr auffasse.
Der Wolfmann
Man kann meinen Kolleginnen aus der Redaktion der Stunning Looks ja so Einiges vorwerfen. Zum Beispiel dass sie sehr, sehr launisch sind (vor, an und nach Vollmond ebenso wie vor, während und nach ihrer Periode), dass sie das Wort kollegial für den Namen einer neuen Antifaltencreme halten oder dass sie für ein Paar Schuhe mehr Geld ausgeben, als ich monatlich für meine Wohnung bezahlen muss. Aber eines muss man ihnen lassen: Sie sind sehr kreativ in der Wahl an Möglichkeiten, sich gegenseitig das Leben so richtig schwer zu machen. Und das nicht nur während der Arbeitszeit, sondern auch darüber hinaus.
Den Preis für die schmerzhafteste Foltermethode würde hierbei mit Sicherheit Julia verdienen, die mit vollem Körpereinsatz daran arbeitet, mir mit Jan das Herz zu brechen (über den Umweg mit Jan). Anscheinend muss sie diese Erfahrung an jemand anderem machen, denn sie selbst scheint nicht im Besitz dieses lebenswichtigen Organs zu sein. Streichen wir das scheint, ich bin mir da absolut sicher. Aber auch die anderen Mitarbeiterinnen der Redaktion sind in dieser Form des Sadismus geübt und haben sich erst kürzlich zusammengerottet, um eine neue außerbetriebliche Gemeinschaft der Superzicken zu organisieren. Herausgekommen ist dabei die Spitzenidee, dass die Textredaktion an einem Dinner in the Dark teilnehmen soll. Toll. Nicht dass mich jemand falsch versteht – ich bin durch meine nächtlichen Hungerattacken darin geübt, im Dunkeln zu essen, und bekleckern tue ich mich sowieso immer, egal ob mit oder ohne Licht. Aber diese Unternehmung ausgerechnet mit den anstrengendsten Personen der Stadt und noch dazu mit Jans neuer Flamme machen zu müssen, bereitet mir Magenschmerzen. Aber na ja, wenigstens fallen wegen der Dunkelheit das aufwendige Styling und Outfit weg. Wenn ich mir während des Essens auch noch Ohropax oder die Stöpsel meines MP3-Players in die Ohren pfropfen würde, müsste ich die anderen nicht mal mehr hören. Vielleicht könnte der Abend doch ganz angenehm werden …
Ich stehe also vor dem Alten Hof, dem Restaurant, in dem das Essen stattfinden soll, umgeben von hysterisch schnatternden Frauen (»Mir ist kalt!«, »Ich habe mir einen Nagel abgebrochen!«, »Also ich finde ja, dass Brad viel besser zu mir gepasst hätte, als zu dieser hohlwangigen Angelika!«, »Du meinst Angelina!?«, »Hab ich doch gesagt!«), lege mir in meiner Handtasche bereits den MP3-Player bereit und habe tierischen Kohldampf. Ich will jetzt einfach nur in Ruhe essen, immerhin sind wir ja deswegen hier!
»Na, auch dabei?« Meine Erzfeindin Julia ist neben mir aufgetaucht und blitzt mich aus funkelnden Augen an.
»Wie du siehst«, antworte ich knapp und wühle weiter in meiner Tasche.
»Suchst du nach deinen Appetitzüglern, oder was?«
»Falls ich sie nicht finde, brauche ich ja nur dich zu fragen«, gebe ich zurück, ohne aufzusehen.
»Warum so zickig? Hast du deine Tage?«
»Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu nerven?«
»Doch, aber erst nach dem Dinner. Und zwar mit jemandem, den du kennst!« Julia grinst anzüglich, und ich spüre meine Gesichtsfarbe weichen. Sie öffnet den Mund, um weiterzureden, und ich versuche angestrengt, mich aus Selbstschutz taub zu stellen, doch leider verstehe ich sie trotzdem. »Denn danach treffe ich mich noch mit Jan, weißt du? Vielleicht gehen wir ins Kino oder einfach nur ein bisschen spazieren.«
»Aha«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Er ist ja immer so eingespannt mit seiner Werkstatt. Aber für mich hat er extra einem Kunden abgesagt, damit wir noch ein wenig Zeit miteinander verbringen können. Süß, oder?«, säuselt sie weiter. Ich antworte nicht, sondern schiebe mich an ihr vorbei und drängle mich durch den Eingang. Den Begrüßungscocktail kippe ich schnell hinunter (diesmal nicht in Verbindung mit Hustensaft und
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