Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
tritt näher und nimmt meine Tasche, mit dem freien Arm drückt er mich an sich. »Ist alles gut?«, fragt er sanft.
»Ja, jetzt schon«, lächele ich dankbar.
»Komm, lass uns reingehen. Erzähl mal, hast du den kleinbürgerlichen Vorstadtwahnsinn gut überstanden?«
Als ich am zerkratzten und leicht klebrigen Esstisch der WG Platz nehme, fühle ich mich wieder zu Hause angekommen, gut aufgehoben und kein bisschen traurig. Das hier ist meine Familie. Warum hatte ich mir überhaupt Sorgen gemacht? Meine Frage beantwortet sich in dem gleichen Augenblick, in dem ich sie mir stelle, denn die Tür geht auf und ein mir zu vertrautes Gesicht schiebt sich ins Zimmer, ein Gesicht, an das ich öfter gedacht habe, als ich es mir eingestehen will.
»Oh, hallo Vicky! Ich wusste gar nicht, dass du zurück bist!«
»Hallo, Jan.« Meine Hände beginnen zu zittern, sodass ich meine Cola abstellen muss, damit sie nicht überschwappt. Mensch, was ist denn mit mir los? Ich muss mich zusammenreißen! Jan bleibt einen Moment lang im Türrahmen stehen und scheint zu überlegen, was er tun soll. Ich starre betreten auf die Tischplatte hinab, und aus den Augenwinkeln kann ich erkennen, dass Stephans Blick neugierig von mir zu Jan und wieder zurück huscht. Dann setzt sich Jan ans andere Tischende und sieht mich nachdenklich an.
»Warst du bei deinen Eltern?«, fragt er plötzlich, und seine Stimme klingt ruhig. Ich nicke. Er hat wieder diese steile Falte zwischen den Augenbrauen, und ich frage mich, was gerade in ihm vorgeht. Ob er noch sehr sauer auf mich ist wegen der SMS? Aber dann würde er anders reagieren. Ich kenne ihn ja. Er würde mit verschränkten Armen an der Küchenanrichte lehnen und auf cool und unnahbar machen. Oder er würde an mir vorbeigehen, mich nur mit einem knappen Nicken grüßen, sich ein Bier aus dem Kühlschrank holen und dann wieder in seinem Zimmer verschwinden und die Musik laut aufdrehen. Dass er sich jetzt zu uns gesetzt hat und auch noch eine direkte Frage an mich richtet, passt so gar nicht zu einem schmollenden Jan. Oder bin ich ihm vielleicht schon gar nicht mehr so wichtig, als dass ich ihn noch irgendwie verletzen oder ihm zumindest zu denken geben könnte?
»Ist Moritz schon wieder weg?«, fragt Jan weiter. Ich kann nicht anders, ich muss auf seine Hände starren, die mit einem Bierkorken spielen und ihn zwischen den Fingern hin und her springen lassen. Die gleichen Fingerspitzen, die auf dem freien Stück Haut zwischen Jeansbund und T-Shirt gelegen haben, zart über meinen Bauch gefahren sind, mein Gesicht gestreichelt haben … Schluck.
Ich spüre fragende Blicke auf mir und versuche krampfhaft, mich endlich zu konzentrieren. »Ja, der ist vorhin gefahren. Leider.«
»Hm, schade. Man sieht sich nur noch viel zu selten.«
»Ja, finde ich auch.« Wieder richte ich meinen Blick auf die Tischplatte, und meine Fingernägel krallen sich in meine Oberschenkel. In mir kämpfen gerade die unterschiedlichsten Empfindungen. Ich vermisse Jan, würde ihm jetzt am liebsten ganz nahe sein, möchte wissen, dass alles gut ist zwischen uns, dass er mich noch lieb hat, vielleicht sogar mehr als das. Gleichzeitig würde ich am liebsten weglaufen, ihn hier zurücklassen, ihn vergessen und einfach wieder ich selbst sein können, ohne dieses komische Gefühl in mir, das schrecklich und trotzdem irgendwie total schön ist und das ich vorher nie hatte – und auch nicht mehr haben will, weil ich ihm einfach nicht Herr werden kann und ich es hasse, etwas nicht kontrollieren zu können. Und ich möchte, dass es ihm genauso geht wie mir. Nur, dass der Auslöser für ihn nicht ich bin, sondern Julia. Und plötzlich habe ich wieder dieses Bild vor Augen, er und Julia an diese Säule gelehnt, ihr Lachen, sein Blick, ihr Kuss. Auf einmal wird die Luft knapp, ich brauche Sauerstoff, vor meinen Augen beginnt es wieder zu flackern, so wie damals an Silvester.
»Ich muss gehen«, japse ich, springe auf und laufe zur Tür, Caruso mir hinterher. Ich höre Stephan etwas rufen, aber ich drehe mich nicht um, haste das Treppenhaus hinauf, stürme in meine Wohnung und reiße dort ein Fenster auf, um die frisch hereinströmende Luft tief einzuatmen. Ganz ruhig, Brauner! So, jetzt wird es langsam wieder besser. Ich lasse mich auf meine Couch sinken und tätschele beruhigend Carusos Flanken, der mich sorgenvoll und schwanzwedelnd mustert und sich gegen mein Knie drückt. Ich muss mich irgendwie ablenken. Nicht an Jan denken. Nicht an
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