Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
aussieht wie ein Ferkel statt wie ein richtiges Baby (sorry, Sonja!). Meine ehemalige Sandkastenfreundin selbst kennt kein anderes Thema außer Schwangerschaftsstreifen, Dammrisse und den Windelinhalt ihrer Tochter. Auf Moritz und meinen Vater kann ich nicht zählen, denn die beiden sind gerade in irgendeine Unterhaltung über Eisenbahnbau vertieft, was mich zugegeben noch weniger interessiert als die Frage, ob Pampers oder Fixies die bessere Windelmarke sei. Also sitze ich am Esstisch der Paschulkes, stochere in Sauerbraten und Kartoffeln herum (wenigstens das Essen ist echt lecker – und im Gegensatz zu den Mahlzeiten meiner diätverrückten Mutter auch wirklich nahrhaft), lausche mit einem halben Ohr Sonjas Gebärerfahrungen und betrachte dabei gedankenverloren ihre Tochter Chantal Marie, die mich mit ihrer rosafarbenen Haarspange stark an einen Yorkshire Terrier erinnert.
Mit den Worten »Und was machst du so, Vicky?« werden meine Gedanken über Babys, Ferkel und Schoßhunde jäh unterbrochen, und ich hebe den Kopf.
»Hm?«
»Na ja, planst du auch schon eine Familie, oder bist du eher ’ne Karrierefrau?«, hakt Sonja nach, und zu meinem blanken Entsetzen beginnt sie, vor den Augen aller ihre Bluse aufzuknöpfen, um mit purer Selbstverständlichkeit ihr Baby zu stillen. Dieser Anblick wirft mich völlig aus der Bahn und auch Moritz interessiert sich plötzlich nicht mehr für Eisenbahnbau. Als ich ihm unauffällig meinen Ellenbogen in die Seite stoße, erwacht mein Bruder aus seiner Starre und wendet peinlich berührt den Blick von Sonjas plötzlichem Exhibitionismus ab.
»Ich … ähm …«, antworte ich ihr stotternd. »Ich arbeite als Kolumnistin … für die Stunning Looks.«
»Wie bitte? Die Stunning Looks ? Ist das dein Ernst?« Ich nicke und traue mich kaum, die viel zu euphorische Sonja anzusehen. »Das ist ja Wahnsinn! Das muss ich unbedingt Markus erzählen. Markus ist mein Mann, weißt du? Er ist Chefredakteur bei der Zeitung München Aktuell.«
»Echt?«, frage ich, als es gerade an der Tür klingelt.
»Oh, das ist er bestimmt«, ruft Sonja erfreut. Ihre Mutter steht auf, um zu öffnen. Aus dem Flur klingt eine angenehme Männerstimme, und schwere Stiefel knarzen kurz darauf über die Holzdielen.
»Das hier ist Markus Rosendaal, unser Schwiegersohn«, stellt Frau Paschulke stolz den hochgewachsenen Mann vor, mit dem sie zurück ins Esszimmer kommt. Hm, also so hätte ich mir den Ehemann meiner Freundin aus Kindertagen niemals vorgestellt! Ich hatte eher an den Typ Milchsemmel gedacht: blass, klein, vielleicht etwas rundlich und mit spärlichen Haaren (irgendwo muss Chantal Marie ihren Kahlschlag schließlich herhaben). Doch dieser Markus Rosendaal sieht eher nach einem Abenteurer aus, der entweder als hartgesottener Seebär monatelang über die Weltmeere segelt oder die Winter am liebsten in der tiefsten Wildnis Alaskas verbringt. Er ist groß und breitschultrig, seine eisblauen Augen blitzen unternehmungslustig unter buschigen Brauen hervor, und sein Mund wird fast vollständig von einem sehr männlichen Bart verdeckt. Er trägt einen marineblauen Wollmantel, eine Kappe, die er tief ins Gesicht gezogen hat, und an den Füßen schwere Outdoorboots. Ich bin mir sicher, würde ich jetzt einen Blick aus dem Fenster werfen, würde da mit Sicherheit ein Range Rover stehen oder vielleicht sogar die Gorch Fock vor Anker liegen.
»Guten Tag«, grüßt Markus Rosendaal mit warmer Stimme in die Runde und lüftet seine Kappe. Seine Tochter quietscht bei seinem Anblick erfreut, und auch Sonja strahlt. Für einen kurzen Moment beneide ich diese Familienidylle fast ein wenig, aber dann fällt mir wieder der Grund meiner Anwesenheit ein, und schlagartig bin ich wieder dankbar, kein Kind am Bein zu haben, das mir meine Karrierepläne durchkreuzen könnte. Rosendaal setzt sich zu uns an den Tisch, und Frau Paschulke holt einen zusätzlichen Teller, den ihr Mann sofort mit einem riesigen Stück Fleisch und einem Dutzend Kartoffeln belädt.
»Ich musste mich noch um die Schlussredaktion kümmern«, entschuldigt Rosendaal seine Verspätung.
»Sie sind Journalist?«, fragt mein Papa, plötzlich aufmerksam geworden.
»Ja, richtig.«
»Meine Tochter ist auch Journalistin. Sie schreibt Todesanzeigen – stellen Sie sich das mal vor!« Stolz sieht er mich über den Tisch hinweg an, während Rosendaals fragender Blick auf mir ruht.
»Äh, nein«, rudere ich peinlich berührt zurück, während Moritz neben mir
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