Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
greifen zärtlich unter mein Kinn, um mein Gesicht zu sich heranzuziehen und mir tief in die Augen zu sehen. Wahnsinn, dieses Blau! Ich schlucke trocken.
»Weißt du«, raunt er mir ins Ohr, »ich dachte, dass wir hier ganz ungestört sein können. Und auch, wenn ich mich in meinem Elternhaus nicht wirklich wohlfühle …« Er lässt kurz einen missbilligenden Blick durch das Zimmer schweifen, bevor er wieder zu mir sieht und seine Züge wieder ganz weich werden, »… so habe ich mir trotzdem gedacht, dass einer Prinzessin wie dir nichts anderes zusteht als das hier.«
So, jetzt ist es passiert, ich schmelze dahin. Melting in the sun.
Severin und ich liegen in dem großen Bett, ich habe meinen Kopf auf seine Brust gelegt, und er streichelt meine Haare. Es ist ganz still, ich kann nur seinen Herzschlag, seinen Atem und das Ticken der großen Standuhr hören, sonst nichts. Himmlische Ruhe. Ich weiß nicht, wie lange wir nun schon hier sind, aber selbst wenn es Stunden sind, ist es viel zu kurz für mich. Und auch wenn wir noch Stunden hierbleiben würden, dann wäre es auch nicht genug. Warum muss alles Schöne so vergänglich sein?
»An was denkst du gerade?« Severins Hand sucht nach meiner.
Ich seufze schwer. »Ich bin traurig.«
»Was? Warum?« Erschrocken hebt er den Kopf. »Obwohl es gerade so schön war?«
»Ja, eben weil es so schön war«, erwidere ich. Ich wende mich ihm zu und blicke in sein verständnisloses Gesicht. »Ich bin melancholisch, weil ich weiß, dass das hier bald wieder vorbei sein wird. Dann müssen wir diesen Ort verlassen, und er wird zu einer Erinnerung, mitten in einem Ozean vieler anderer Erinnerungen. Ich will aber, dass das hier für immer Gegenwart bleiben kann, verstehst du? Ich will einfach die Zeit anhalten können.«
»Aber das können wir doch!« Severin lächelt, schiebt mich vorsichtig zur Seite und steht dann auf. Er geht auf die große Standuhr zu, hält ihre vergoldeten Zeiger an, und das Ticken verstummt. Nur einen Atemzug später liegt er wieder neben mir und zieht mich in seine Arme. »So«, flüstert er, »jetzt habe ich die Zeit angehalten. Denk nicht mehr an später, sondern genieß einfach nur das Hier und Jetzt.«
Alea iacta est
Ich sitze in der Trambahn, meine Stirn an das kühle Fenster gelehnt, und betrachte die Menschen und Häuser, die an mir vorbeiziehen. Mit leisem Surren kommt die Bahn zum Stehen, ich hebe den Kopf und blicke auf das Haltestellenschild. Nur noch drei Stationen. Genauso weit bin ich von einem Neuanfang entfernt. Vielleicht. Vielleicht wird es auch eine Enttäuschung sein. Vielleicht aber die erste Sprosse auf meiner Karriereleiter. Wer weiß schon, was in drei Stationen auf mich wartet? Der Anruf, der alles ins Rollen brachte, kam gestern.
»Frau Schäfer, ich habe Ihre Probetexte gelesen«, hatte Markus Rosendaal, der Chefredakteur von der München Aktuell, am Telefon zu mir gesagt. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, mich persönlich anzurufen – ganz im Gegenteil zu Hierarchieschweinen wie Evelyn Kern.
»Wirklich?«, hatte ich ihn wenig intelligent und völlig überrumpelt gefragt.
»Wirklich. Und ich muss sagen, ich wäre ein kompletter Idiot, wenn ich Sie nicht auf der Stelle zu einem Gespräch einladen würde. Haben Sie morgen um 15 Uhr schon was vor?«
»N-nein.«
»Prima. Dann bis morgen. Ich freue mich!«
»Ich mich auch!«
Klick.
Der Lautsprecher verkündet den Namen der nächsten Haltestelle, woraufhin ich mich von meinem Sitz erhebe, um mir den Weg zum Ausgang zu bahnen. Ich bin da. Jetzt ist meine Chance gekommen, den Würfelbecher an mich zu reißen, ihn kräftig zu schütteln, etliche Stoßgebete gen Himmel zu schicken und dann loszulassen. Denn gleich werden die Würfel für mich fallen.
Das Verlagsgebäude der München Aktuell sieht von außen unscheinbar aus, kein Vergleich zu dem modernen und funkelnden Turm der Stunning Looks, der beinahe blasphemisch auf den Rest der Welt hinabblickt. Unten am Empfang, in dem auffallend viele Grünpflanzen herumstehen, sitzt eine dickliche Frau mit Hornbrille, die ein freundliches Gesicht macht, als ich auf sie zutrete. Ich sollte mich nicht zu früh freuen, ermahne ich mich, wer weiß, ob sie nicht gleich stakkatoartig auf ihre Tastatur einhämmert und mich anbellt, was ich hier zu suchen habe. Hab ich ja alles schon erlebt.
»Guten Tag«, grüßt sie wider Erwarten und sieht mich lächelnd an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, ich habe um 15 Uhr einen Termin
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