Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
nach möglichen Regungen abzuscannen und diese auswerten zu können. Als dann endlich meine Kinnlade herunterklappt, habe ich seine Erwartungen diesbezüglich wohl erfüllt, denn er grinst.
»Wirklich?«, hauche ich ehrfürchtig.
»Na, glauben Sie, ich würde mit so etwas scherzen?«
»Nein, natürlich nicht! Aber … ich meine …« Meine Hand tastet automatisch nach einem Wasserglas, kriegt jedoch nur die Kaffeetasse vor mir zu fassen. Eine Köstlichkeit gleich frischem Teer rinnt meine Speiseröhre hinunter, und ich warte innerlich auf die Planierraupe, die die neue Straße ebnen soll, während sich meine Zunge vor Entsetzen windet und mein Gehirn für den Geschmacksnerv Bitter ganz neue Erfahrungswerte anzulegen beginnt.
Daraufhin beginnt Herr Rosendaal dröhnend zu lachen, anscheinend muss mein Gesichtsausdruck mehr als erheiternd sein. »Es tut mir wirklich leid, aber ich hatte Sie ja gewarnt!«
Ich huste. »Kein … Problem. Also, um auf Ihr Angebot zurückzukommen …«
»Sagen Sie nichts. Melden Sie sich einfach innerhalb der nächsten zwei Wochen bei mir und teilen Sie mir mit, ob Sie gewillt sind, Frau Kern gegen mich einzutauschen. Ich dränge Sie zu nichts. Sie sollten nur wissen, dass ich mich sehr freuen würde!«
Ich nicke und erhebe mich aus meinem Stuhl.
»Warten Sie, ich bringe Sie hinaus.«
Und nur wenige Augenblicke später stehe ich wieder draußen auf der Straße, inmitten hupender Autos und bimmelnder Trambahnen. Irgendwo bellt ein Hund und eine laut gackernde Horde Schüler schiebt sich an mir vorbei, die alle laute Musik aus ihren Handylautsprechern hören.
Die Würfel sind gefallen. Ziehe ich jetzt eine Karte, eine der schillernden mit dem Konterfei von Evelyn Kern auf der Rückseite, verbunden mit der Möglichkeit, mich mit einem perfekten Pokerface bis nach oben zu schummeln? Oder gehe ich direkt auf Los, wo ich zwar kein Geld bekomme, dafür aber die Chance auf den Pasch des Lebens haben kann?
Ich weiß es nicht. Noch nicht. Ich muss nachdenken.
Stunning-Looks-Ausgabe: 30
Cover: Heidi Klum
Kolumne: ›Papergirl findet, dass …‹
Heute: ›… Anprobieren eine Qual ist.‹
Liebe Stunning-Looks-Leserinnen,
es gibt Dinge im Leben, um die kommt man einfach nicht herum: Kreditkartenabrechnungen (zumindest nur so lange, bis der Gerichtsvollzieher klingelt), Zahnarzttermine (hier auch nur so lange, bis man es vor lauter Schmerzen nicht mehr aushält), Weihnachtseinkäufe (bis ganz kurz vor Heiligabend) … Es gibt viele Dinge, auf die man gut verzichten könnte, aber trotzdem nicht von ihnen verschont bleibt.
Ein Beispiel hierfür: die Anprobe. Und ich meine damit nicht das erste Anpassen auf den Leib geschneiderter Kleidungsstücke. Ich meine die demütigenden Momente, die Frau in den Umkleidekabinen dieser Welt verbringt, um sich in Hosen, Badeanzüge oder Kleider zu quetschen, mit denen sie noch eben an der Kleiderstange geliebäugelt hat. Schon so manche sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen einem Sommerkleid und einer kaufwilligen Frau, die das Stück der Begierde kurz zuvor in einem Schaufenster erspäht hat, wurde durch das Intermezzo der beiden in einer Umkleidekabine innerhalb weniger Minuten völlig zerstört. Grund: fiese Beleuchtung, stickige Kabine und Zerrspiegel. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Ich kann nicht verstehen, was in den Köpfen der Kaufhaus- und Boutiquenbesitzer vor sich geht, wenn es um die Bereitstellung einer Umkleidekabine für ihre Kunden geht. Auf der einen Seite wollen sie uns ihre Ware schmackhaft machen, wir sollen sie ihnen förmlich aus den Händen reißen, und sie versprechen uns die beste Qualität der jeweiligen Kleidungsstücke, bieten uns aber solch miese Kabinen an! Was nützt einem ein sündhaft teures Kleid aus edler Seide, welches sich zwischen den Fingern einfach nur wunderbar anfühlt und farblich perfekt mit unseren Peep Toes von Jimmy Choo harmonieren würde, wenn wir uns bei einem Blick in den Spiegel fühlen müssen wie ein Albinowalross? Jeder Pickel, jede Rötung, jedes Fältchen wird auf unserer viel zu blassen Haut sichtbar, dank viel zu grellem und völlig unvorteilhaft platziertem Licht! Unser sonst so wohlgeformter, straffer Körper offenbart in diesem Albtraum von Spiegel nicht nur Dellen und Fettpölsterchen, sondern hebt Problemzonen, die wir durch jahrelanges Training gekonnt versteckt hatten, gnadenlos hervor und hält sie uns vor Augen. Die Enge der Kabine lässt uns außerdem in Schweiß
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