Kann ich gleich zurueckrufen
dem Arm.
Das Fahrrad steht im Hof. Ich setze meinen Sohn auf den Kindersitz und schiebe das Fahrrad durch die Einfahrt. Der vordere Reifen ist fast platt. Ich lehne das Fahrrad an die Wand, halte es mit der einen Hand fest und löse mit der anderen die Luftpumpe aus der Halterung. Es gelingt mir, das Rad festzuhalten und gleichzeitig Luft in den Vorderreifen zu pumpen. Dabei gerate ich wieder ins Schwitzen. Ich stecke die Luftpumpe in die Tasche und fahre los. »Bis du noch da?«, frage ich meinen Sohn und greife mit der linken Hand nach hinten, um zu fühlen, ob er sicher sitzt. Er sitzt sicher. Antwortet aber nicht.
Wir fahren die Straße entlang. Die Uhr vor der Apotheke zeigt 9:20 Uhr. Ich trete schneller, biege ab, schlängle mich an einem Lieferwagen vorbei, der auf dem Radweg parkt, und überfahre dann eine rote Ampel. Natürlich habe ich vorher genau geschaut, ob der Verkehr das zulässt. Kein Auto weit und breit – aber ein alter Mann auf einem Fahrrad, der an der Ampel wartet und mich anpöbelt: »Bei Rot darf man nicht fahren! Und dann noch mit einem Kind!« Wegen eines Kindes, denke ich mir, das wäre passender. Ich würde trotzdem am liebsten im Erdboden versinken, löschen und »Zurückspulen« drücken auf dem Rekorder meines Lebens. Gleichzeitig habe ich das Bedürfnis, den alten Mann vom Fahrrad zu zerren und ihm zu erklären, wie hektisch mein Leben ist und dass ich manchmal einfach keine Zeit habe zu warten, bis eine Ampel auf Grün springt. Stattdessen fahre ich weiter, noch einmal abbiegen und wir sind da. 9:27 Uhr. Mein Sohn sitzt friedlich in seinem Fahrradsitz. Die Fahrt hat ihm gefallen, sagt er, weil wir so schnell waren.
Die Arztpraxis ist bereits gut gefüllt. Im Wartezimmer für die kleinen Kinder droht irgendeine Ansteckungsgefahr. Deswegen schickt uns die Sprechstundenhilfe ins Wartezimmer für die großen Kinder. Hier sitzen viele Mütter und viele Kinder, es wird geschnieft und gehustet und leise gesprochen. Neben dem einzigen Mann ist noch ein Stuhl frei. Ich nicke dem Mann zu, setze mich und nehme meinen Sohn auf den Schoß. Ich ziehe dem Kleinen die Jacke aus. Es ist heiß im Wartezimmer, richtig stickig.
Ich fühle die Stirn meines Kindes. Er ist warm, aber nicht fiebrig. Er hat schon eine ganze Weile nicht mehr gehustet. Ich stelle mein Handy lautlos. »Bei Ihnen ist aber wirklich jemand krank«, sagt der Mann auf dem Stuhl neben mir. »Ja, mein Sohn hat seit gestern Fieber«, sage ich und streiche dem Kleinen das Haar aus der Stirn. »Wir sind heute nur zur Masern-Mumps-Röteln-Impfung hier«, sagt der Mann und zeigt auf das kleine Mädchen, das dicht neben dem Zeitschriftentisch steht und den Arm nach einem Bilderbuch ausstreckt. »Sie ist elf Monate alt und kann schon laufen, an meiner Hand.« Er sieht meinen Sohn an. »Ist das Fieber so hoch, dass Sie zum Arzt müssen?« Ich schüttle den Kopf. »Nein, aber ohne Attest bekomme ich Ärger im Büro.« Er nickt. »Das kenne ich. Obwohl, eigentlich kenne ich es nicht. Ich bin in Elternzeit, schon seit drei Monaten. Insgesamt mache ich sechs Monate Elternzeit – und an meine Arbeit denke ich gar nicht mehr.«
Der Mann ist mir nicht unsympathisch. Obwohl ich Small-Talk-Gespräche meistens kurz halte, weil sie schlimme Zeitfresser sind, frage ich ihn, ob seine Frau jetzt arbeiten geht. Weil sie mich interessiert, diese andere Aufteilung der Elternzeit. Und weil ich gerade eh nichts tun kann, außer zu warten. Der Mann sagt, dass seine Frau Vollzeit in einem kleinen Unternehmen arbeitet. Dass ihr der Abschied vom Kind schwergefallen ist, auch, weil sie nach acht Monaten sehr schnell abstillen musste und Angst hatte, dass ihre Tochter darunter leidet. »Aber ihr geht’s ganz wunderbar, meiner kleinen Tochter«, strahlt der Mann. Er berichtet stolz, dass sie, wenn sie weint, jetzt immer erst nach dem Papa, dann nach der Mama ruft.
Ich lächle. Und stelle fest, dass mir eine solche Rufrangordnung nicht recht wäre. Wir warten nun schon seit zehn Minuten. Der Mann erzählt, dass er Einsicht in eine Welt erhalten hat, die den meisten Männern verborgen ist. »Angeblich wollen viele Männer nicht den ganzen Tag mit einem kleinen Kind verbringen. Ich glaube, das liegt daran, dass sie sich nicht vorstellen können, was das eigentlich bedeutet. Sie denken nur an das, was sie abends von ihren müden Frauen hören: Das Kind hat sich eingeschissen bis zum Hals, wollte keinen Mittagsschlaf machen oder hat an der Supermarktkasse eine
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