Kannst du mir verzeihen
letzten Moment biss sie sich auf die Zunge.
Jai musste abermals seine brennende Neugier zügeln. Er würde sie nicht fragen, was Bastian ausgefressen hatte. Er würde warten, bis sie es ihm aus freien Stücken erzählte. So wollte sie es, und er würde das respektieren. Aber er konnte sie ein klein wenig in die richtige Richtung schieben. Denn ganz gleich, was sie sagte: Reden half. Wenn man nicht redete, setzten die Dinge sich fest und gärten wie Hefe in einem warmen Küchenschrank. Er wusste das nur zu gut aus eigener Erfahrung.
Was seine eigene Familie betraf, so waren ihm leider die Hände gebunden. Die hatte ihn abgeschrieben. Sie wollten nicht mit ihm reden, ihn nicht einmal sehen. Aber Hanny war anders. Sie hatte ein so groÃes Herz, sie hatte tiefstes Verständnis für alles und jeden. Was also hatte Bastian getan, das sie so sehr verletzt hatte, dass sie es ihm nicht verzeihen konnte? Er könnte einfach mal aus der Hüfte schieÃen und raten. Er musste sie einfach zum Reden bringen, und zwar nicht, weil er gerne pikante Details gehört hätte, sondern weil er um ihr Seelenheil besorgt war. Er hatte nur noch einen Tag Zeit, wenn es ihm nicht bald gelang, an sie heranzukommen, würde er sie mit ihrem Kummer alleinlassen müssen.
Und darum beschloss er, heute ein klein wenig unnachgiebiger zu sein, und marschierte schnurstracks zur Haustür, schnappte sich das Geschenk, das ebenso zuverlässig davorstand, wie die Sonne jeden Morgen aufging, marschierte zurück in die Küche und stellte es auf den Tisch. Machte es ohne Umschweife auf. Befreite eine Schachtel, die er, ohne sie genauer anzusehen, Hanny reichte.
»Aufmachen«, kommandierte er.
Verdutzt nahm Hanny ihm die Schachtel ab. Irgendwie blieb ihr gar nichts anderes übrig. Aber was war bloà in ihren sonst so sanftmütigen Freund gefahren? Was sollte der Kasernenhofton?
»Aufmachen!«, wiederholte er, obwohl sie inzwischen beide ahnten, was sich in der Schachtel befand.
Sie machte sie auf.
»Die Rückkehr der Schokoéclairs!« Jai nahm die Schachtel, betrachtete den Inhalt und musste unwillkürlich grinsen. »Er weiÃ, dass ein Dutzend nicht reicht.«
Sie weinte nicht, wurde nur kreidebleich.
Jai biss sich auf die Lippe, stellte die Schachtel ab, streckte die Arme über den Tisch und legte seine Hände auf Hannys.
»Was hat er getan, Hanny?«
Es dauerte eine Weile, aber dieses Mal antwortete sie.
»Er hat einen Fehler gemacht«, flüsterte sie.
»Und ein einziger Fehler bedeutet schon das Ende?«
Sie schwieg.
Ja, dachte sie.
Das war ihre Antwort. Jede Faser ihres Körpers schrie: Ja!
Aber Jai sah ihr an, dass Zweifel in ihr aufstiegen.
Er wartete etwas, dann hakte er nach:
»Ein einziger Fehler bedeutet schon das Ende?«
Sie starrte auf die Tischplatte. Ohne den Blick zu heben, sagte sie:
»Ja.«
»Spricht da jetzt dein Herz oder dein Verstand?«
»Ich weià es nicht«, flüsterte sie. »Ich weià es wirklich nicht.«
Und das warâs. Mehr wollte Hanny nicht sagen. Sie stand auf, machte Kaffee, teilte die Ãclairs unter ihnen auf.
Jetzt lächelte sie ihn unsicher an.
»Ich versuche wohl, die Leere in mir mit Essen aufzufüllen«, analysierte sie, verzog das Gesicht und biss einmal ordentlich ab.
»Und? Funktioniertâs?«
»Hat es schon jemals funktioniert? Man fühlt sich nur noch schlechter, weil man sich nicht mehr nur einsam und elend fühlend, sondern noch dazu fett und verfressen.«
Das reichte Jai bereits als Eingeständnis. Sie fühlte sich also einsam und elend. Da wäre er auch von selbst draufgekommen. Aber es war gut, dass Hanny es selbst aussprach. Zwar weigerte sie sich nach auÃen hin immer noch zu reden, doch er spürte, dass sie sich endlich ein wenig öffnete. Aber er wusste auch, wenn er zu viele Fragen stellte, würde sie wieder dichtmachen. Für jemanden, der »reden« als sein schönstes Hobby bezeichnen könnte, war es verdammt schwer, zu schweigen und abzuwarten.
Er nahm sich ein Ãclair und biss ein so groÃes Stück davon ab, dass es ihm unmöglich war zu sprechen. Morgen war auch noch ein Tag, an dem er sie in die Mangel nehmen und endlich die Wahrheit aus ihr herauspressen konnte. Heute würde er daran arbeiten, ihr Lächeln zu festigen.
»Gut. Und was machen wir, wenn wir die alle aufgefuttert haben?«,
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