Kannst du mir verzeihen
Anwesenheit der deutlich weniger alkoholisierten »Kulturgruppe« zähmte die »Sauftruppe« ein wenig. Die unterschiedlichen Temperamente schienen sich auf einen gemeinsamen geselligen Nenner einzupendeln.
Die Schwierigkeiten fingen an, als Oliver ein Trinkspiel vorschlug, dessen Ziel es war, die schweren Bierkrüge nur mit dem kleinen Finger der rechten Hand anzuheben. Das war ziemlich schwierig und gelang nur Oliver, der daraufhin extrem zufrieden mit sich selbst war. Stolz ernannte er sich selbst zum »KleinfingermaÃheberkönig« â und wurde prompt von einem Neuling entthront.
Jai war kein Biertrinker, doch der zierliche Asiate nahm sich der Bierkrüge mit einer Leidenschaft an, die die gesamte Gruppe erstaunte. Er konnte nicht nur mit seinem rechten kleinen Finger eine Maà heben, sondern auch mit seinem linken â und zwar gleichzeitig. Alle fingen begeistert an zu klatschen â auÃer einem.
»Es lebe der neue KleinfingermaÃkönig!«, hatte Hanny applaudiert.
Oliver hatte von Hanny zu Jai und von Jai zu Hanny gesehen, ein gefährliches Blitzen im Blick und ein nur scheinbar freundliches Lächeln im arroganten Gesicht.
»Wie kann eine Tunte König sein?«
»Hey!«, hatte Hanny ihn verärgert angefahren.
»Ganz ruhig, Kumpel ...«, hatte Bastian ihn gewarnt, doch Oliver lachte nur und hob abwehrend die Hände.
»Tut mir leid, ich will dir nicht zu nah treten, aber du schämst dich doch auch nicht dafür, oder? Bist halt ein Tuntenkönig. Oder besser Tuntenkönigin? Es lebe die Tuntenkönigin!« Er hob das Glas in die Runde, wandte sich dann noch mal an Jai und schob ihm ebenfalls einen gefüllten Krug hin. »Na, was meinst du, Kleiner? Dass du die Maà heben kannst, wissen wir jetzt â aber kannst du sie auch leeren?«
Die noch einigermaÃen zurechnungsfähigen Anwesenden ermutigten Jai, sich nicht auf diese schmutzige kleine Herausforderung einzulassen.
Doch Jai hatte genug.
In seinen schwarzen Augen brannte etwas, das Hanny noch nie dort gesehen hatte: Empörung.
Nicht einmal sie konnte ihn davon abhalten.
Sein Lächeln wich einer ernsten, entschlossenen Miene, und dann leerte er gemeinsam mit Oliver einen Krug nach dem anderen.
Einen. Zwei. Drei. Noch war alles gut. Sein Blick wurde glasig, er begann zu schielen. Vier. Er schwankte gefährlich.
Oliver wollte gerade die fünfte Runde bestellen, doch Hanny kam ihm zuvor und bat stattdessen um Wasser. Jai verkündete, er brauche eine Pinkelpause, und taumelte durch die Menschenmenge davon. Besorgt wollte Hanny ihm folgen, doch bis sie sich endlich vom Tisch freigekämpft hatte, war er schon weg.
Zwanzig Minuten später war er immer noch nicht zurück, und sie schwärmten aus, ihn zu suchen. Sie fanden ihn mit der Nase im üppigen Dekolleté eines genauso betrunkenen deutschen Fräuleins, dem es offenbar überhaupt nichts ausmachte, dass ihr knapp bemessenes Dirndl jetzt mit einem kleinen Koreaner verziert war.
Bevor sie ihn ins Hotel zurücktrugen, kehrte Hanny noch einmal an ihren Tisch zurück, nahm sich zwei gefüllte Bierkrüge und entleerte sie über dem völlig verdutzten Oliver.
Jai ging es erschreckend schlecht.
Bastian beförderte ihn ohne groÃe Worte in ihr Doppelbett und kümmerte sich die ganze Nacht um ihn. Da erlebte Hanny ihn zum ersten Mal in seiner Rolle als Dr. Summers.
Sie wusste ja bereits, dass sie ihn liebte. Aber in dieser Nacht, als er sich so unendlich fürsorglich und geduldig zeigte, wurde ihr klar, wie sehr sie ihn liebte.
Sie spürte diese Liebe auch jetzt wieder, als sie aus den Münchner Erinnerungen zurückkehrte in die Gegenwart.
»Ich habe ihn wirklich geliebt, Jai«, sagte sie leise.
»Ich weiÃ, SüÃe. Ich weiÃ.« Es brach ihm fast das Herz.
Sie machte sich wieder an die Arbeit. Aber heute verhalfen ihr die Bilder von Schwein Bastian nicht zu besserer Stimmung. Sie wusste, dass sie jede Menge Gefühle verdrängt hatte. Es war ihr auch nichts anderes übrig geblieben, sonst hätte sie das alles nicht durchgestanden.
Doch heute konnte sie an nichts anderes denken.
Der Ãberschwang des vergangenen Tages war vergessen, heute hisste sie die weiÃe Flagge und trauerte ihm und den alten Zeiten nach.
Sie musste daran denken, wie sehr sie ihn geliebt hatte.
Wie sehr er ihr fehlte.
Wie ruhig es ohne
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