Kannst du mir verzeihen
Midge schüttelte den Kopf.
»Ich fliege überhaupt nirgendwohin.«
»Und wieso? Du bist doch wegen mir hier, oder? Und mir gehtâs gut. Ehrlich. Du hast mir schon mehr geholfen, als du dir vorstellen kannst. Bitte, Midge.«
»Du willst also nicht, dass ich hierbleibe und dir bei den Vorbereitungen helfe? Einkaufen gehen und so weiter ...?«
»Nein. Ich will, dass du wie geplant nach Spanien fliegst.«
»Du kannst einem schon das Gefühl geben, nicht besonders erwünscht zu sein ...« Midge lächelte trocken.
»Du bist überhaupt nicht unerwünscht«, widersprach Hanny sofort. »Nur im Moment ein bisschen überflüssig ... Wenn du verstehst, was ich meine ...«
Midge zuckte die Achseln.
»Ja, wenn ich meinen Kopf befrage und nicht mein Herz, dann verstehe ich es ...«
Hanny nahm sie schnell in den Arm.
»Du Dummerchen«, gurrte sie. »Ich sagte doch âºim Momentâ¹. Das darfst du nicht als âºimmerâ¹ auslegen. Sonst bist du äuÃerst selten überflüssig. Aber gerade jetzt würde es mich ausnahmsweise extrem glücklich machen, wenn du deine Reise wie geplant fortsetzen würdest. Bitte. Versprich mir, dass du wenigstens drüber nachdenken wirst, Midge.«
»Du willst wirklich, dass ich verschwinde.«
»Jeps.«
»Kommst du mit?«
Hanny schüttelte den Kopf.
»Kann nicht.«
»Natürlich kannst du.«
»Nancy.«
»Könnte Edith nicht auf sie aufpassen?«
»Klar, solange sie mit einem Apfel im Mund im Ofen schmort ... Aber darum gehtâs auch gar nicht. Ich möchte nicht mit. Es war wirklich groÃartig, dass du hergekommen bist, Midge, wirklich, ich bin dir sehr dankbar dafür, und ich freue mich immer, dich zu sehen. Aber ich hätte ein schlechtes Gefühl, dich hier festzuhalten ...«
»Na gut, ich werde darüber nachdenken«, lenkte Midge ein.
Nach dem Frühstück zog Hanny sich in ihr Atelier zurück, um zu arbeiten. Als sie wieder herauskam, war Midge weg, aber sie hatte nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.
War sie etwa schon abgereist?
Eine Sekunde lang spürte Hanny eine Art Panik in sich aufsteigen. Doch dann rief sie sich in Erinnerung, dass sie darauf bestanden hatte, dass Midge abreiste.
Und sie rief sich in Erinnerung, warum sie das getan hatte. Gleichzeitig rief sie sich aber auch in Erinnerung, dass Midge niemals abreisen würde, ohne sich zu verabschieden, was heiÃen musste, dass sie noch mal wiederkommen würde und Hanny nicht im Gästezimmer nachzusehen brauchte, ob ihre Sachen noch da waren.
Aber sie tat es trotzdem.
Und seufzte erleichtert, weil sie noch da waren.
Gegen Mittag kam Midge wieder. Hanny machte gerade Pause und lieà Nancy den Garten wässern, als der Mietwagen in die Einfahrt rollte und hinter der windschiefen Garage parkte.
Sie war nicht allein, sondern hatte Verstärkung mitgebracht: Oma Annie, Midges und Ruths äuÃerst illustre Stiefmutter.
Sie war bereits über achtzig, sah aber aus wie sechzig und kleidete sich, als sei sie zwanzig. Ihren mehr als abwechslungsreichen Lebensabend verbrachte sie in einem ziemlich schicken Seniorenheim in der Nähe von Exeter, das mehr einem Sechssternehotel als einem Altersheim glich.
Hanny besuchte sie für gewöhnlich einmal im Monat, brachte ihr eine gute Flasche Wein und Schokolade, die neueste Vogue und die neueste Jackie Collins mit und machte sich entweder vor Lachen fast in die Hose oder guckte schockiert aus der Wäsche, wenn Oma Annie die Bude rockte.
Mit Oma Annies Besuch bei ihr zu Hause hatte Hanny erst an Weihnachten gerechnet.
»Was soll das?«, fragte Hanny ihre Tante geradeheraus.
Aus Midges Blick sprach ein Anflug schlechten Gewissens, doch mit fester Stimme entgegnete sie:
»Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert.«
»Und wieso hast du dann ausgerechnet Oma angeschleppt?«
»Weil es zur Not auch damit getan ist, dass du jemanden hast, um den du dich kümmern kannst ... Du weiÃt schon, Hanny. Ich will dich hier nicht alleine lassen. Nicht jetzt.« Zärtlich strich sie ihrer Nichte über die Wange und sah sie dabei so liebevoll an, dass Hanny zum ersten Mal seit ihrem Zusammenbruch bei Midges Ankunft wieder die Tränen kamen.
Schnell blinzelte sie sie weg.
Midge tat freundlicherweise so, als hätte sie nichts bemerkt.
»Ihr wird es auch guttun.
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