Kanonenfutter
Morgen, Sir. Die Männer haben gerade die Sandsteine zum Deckschrubben geholt.« Wie nebenbei setzte er hinzu: »Der Kommandant wünscht Sie zu sehen.«
Bolitho rollte sich aus der Koje und sprang beidbeinig auf, damit er nicht etwa umfiel. Die kurze Erfrischung auf Egmonts Terrasse war vergessen; sein Kopf kam ihm vor wie ein Amboß, auf dem eifrig herumgehämmert wurde, außerdem hatte er einen scheußlichen Geschmack im Mund.
Früher Morgen, hatte Yeames gesagt. Also hatte er nur zwei Stunden in seiner Koje gelegen.
In der Nachbarkammer hörte er Rhodes ächzen und stöhnen und dann aufschreien, als ein unbekannter Matrose etwas Schweres auf das Achterdeck über seinem Kopf fallenließ.
Yeames drängte Bolitho: »Sie sollten sich beeilen, Sir!«
Bolitho zog die Kniehose an und griff nach seinem Hemd, das irgendwo in einer Ecke des kleinen Raumes lag. »Gibt’s Ärger?«
Yeames zuckte die Schultern. »Hängt davon ab, was Sie als Ärger bezeichnen, Sir.«
Für ihn war Bolitho immer noch eine unbekannte Größe. Sein Wissen mit ihm zu teilen, nur weil Bolitho beunruhigt war, mußte ihm töricht vorkommen.
Bolitho fand seinen Hut und eilte, während er noch seinen Rock anzog, durch die Messe nach achtern zur Kapitänskajüte.
Der Posten davor rief: »Der Dritte Offizier, Sir!« Macmillan, der Kommandantensteward, riß die Lamellentür auf, als ob er dahinter schon gewartet hätte.
Bolitho ging zum achteren Teil der Kajüte durch und sah Dumaresq an den Heckfenstern stehen: das Haar wirr und seine Kleider so unordentlich, als hätte er keine Zeit gehabt, sich nach der Rückkehr aus Egmonts Haus umzuziehen. In einer Ecke neben den Seitenfenstern kratzte Spillane, der neuernannte Schreiber, mit seiner Feder und tat, als wundere es ihn nicht, zu so früher Stunde gerufen worden zu sein. Die beiden anderen Anwesenden waren Gulliver, der Master, und Midshipman Jury.
Dumaresq warf Bolitho einen Blick zu. »Sie sollten sofor t kommen. Ich verlange nicht, daß meine Offiziere sich wie für einen Ball herausputzen, wenn ich sie brauche!«
Bolitho schaute auf sein zerknautschtes Hemd und die verdrehten Strümpfe hinunter. Da er den Hut unter den Arm geklemmt trug, hingen ihm die Haare so ins Gesicht, wie sie zuvor auf dem Kopfkissen gelegen hatten. Er sah wohl kaum aus wie für einen Ball herausgeputzt.
Dumaresq sagte: »Während meiner Abwesenheit an Land ist Ihr Matrose Murray desertiert. Er war nicht in seiner Zelle, sondern auf dem Weg zum Krankenrevier, weil er über starke Magenschmerzen klagte.« Er verlagerte seinen Zorn auf den Master. »Gott verdammmich, Mr. Gulliver, es war doch klar, was Murray vorhatte!«
Gulliver feuchtete seine Lippen an. »Ich hatte das Kommando über das Schiff, Sir, und sah keinen Grund, Murray leiden zu lassen, zumal der Mann noch nicht schuldig befunden war.«
Midshipman Jury sagte: »Die Meldung ist von mir nach achtern gebracht worden, Sir. Es war meine Schuld.«
Dumaresq fuhr ihm brüsk über den Mund: »Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden! Sie hatten keine Schuld, denn Kadetten tragen noch keine Verantwortung. Dazu besitzen Sie weder den Verstand noch die Erfahrung.« Sein Blick kehrte zu Gulliver zurück. »Erzählen Sie Mr. Bolitho den Rest.«
Gullivers Stimme klang belegt. »Der Schiffskorporal begleitete Murray und wurde von ihm niedergeschlagen. Murray sprang über Bord und schwamm an Land, bevor Alarm geschlagen werden konnte.« Er schien beleidigt, weil er seine Erklärung für einen so jungen Leutnant wiederholen mußte.
Dumaresq sagte: »So ist das also. Ihr Vertrauen in den Mann war ungerechtfertigt. Er floh vor der Prügelstrafe. Aber wenn wir ihn jetzt fangen, muß er hängen.« Er schaute Spillane an. »Schreiben Sie ins Logbuch: ›Desertiert‹!«
Bolitho bemerkte Jurys bekümmerte Miene. Es gab nur drei Möglichkeiten für einen Mann, die Marine zu verlassen: R, D oder DD im Logbuch. R bedeutete Ru n (desertiert), D stand für Discharge d (gestrichen wegen Untauglichkeit), DD für Discharge d - Dead (gestrichen – tot). Murrays nächste Eintragung würde die letzte für ihn sein: DD, also gestrichen – tot.
Und alles wegen einer Uhr. Aber trotz seiner Enttäuschung über Murray war Bolitho seltsam erleichtert. Es drohte keine Auspeitschung des Mannes mehr, den er mochte und der Jury das Leben gerettet hatte. Und auch was hinterherkam, dieses Nachspiel von Bitterkeit und Mißtrauen, war vermieden, wenn die Flucht gelang.
Dumaresq sagte langsam:
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