Kantaki 06 - Feuerträume (Graken-Trilogie 3)
führte in einen großen Raum, der die Funktionen von Salon und Arbeitszimmer vereinte. Rechts gab es eine gemütlich wirkende Sitzecke mit Geräten für Unterhaltung und Kommunikation. Links standen mehrere unterschiedlich große Staffeleien, mit Zeichnungen auf löschbarer Folie. Dominique sah ein Gewirr aus Strichen und Kreisen, wie Entwürfe für abstrakte Gemälde. Die etwa acht Meter lange Wand dahinter war offenbar eine Art permanentes pseudoreales Projektionsfeld und zeigte etwas, das für Dominique zuerst wie ein wildes Durcheinander aus mathematischen Symbolen wirkte. Erst als sie genauer hinsah, stellte sie fest: Offenbar war das komplexe Gebilde eine überaus komplizierte mathematische Formel, in Dutzende von Abschnitten unterteilt, die miteinander in Verbindung standen.
Auf einem mobilen Podium davor stand ein kleiner, verkrüppelt wirkender Mann. Wenn er ging, schwankte er stark, denn die Beine waren unterschiedlich lang, ebenso die dünnen Arme. Der Kopf wirkte zu groß für den schmächtigen Leib, aber Nevoth brauchte nicht wie Davvon ein Stützgerüst dafür. Vor den Augen trug er eine Art Datenvisier, betrachtete damit die Formel und nahm an einigen Stellen Änderungen vor. Dabei veränderten sich die Töne, die Dominique und Tarweder hörten, seit sie Nevoths Wohnung betreten hatten.
Der kleine Mann schüttelte enttäuscht den Kopf. »Es ist nicht richtig. Es ist einfach nicht richtig. Irgendwo steckt ein fundamentaler Fehler.«
Als er sich umdrehte, klappte er das Visier hoch, und Dominique stellte fest, dass es ihm keine Daten präsentierte, wie sie zunächst vermutet hatte. Stattdessen schien es die Funktion einer Lupe zu haben – der Realitätsmechaniker war offensichtlich halb blind. Er trug einen Overall, der ähnlich beschaffen war wie der Tarweders – ein Werk Davvons?
»Es ist erstaunlich, dass Sie es bis hierher geschafft haben«, sagte Nevoth. »Sie sehen genauso aus wie auf den Fahndungsbildern. Eigentlich hätten Sie jemandem auffallen müssen …« Er unterbrach sich, als er sah, dass Tarweder an seinem Podium vorbeigegangen war und mit großem Interesse die Formel betrachtete. Von Kiwitt im Rucksack kam ein leises, fragend klingendes Gurren.
»Das ist eine der mathematischen Formeln von Ennamas Theorie des Großen und Ganzen, nicht wahr?«, fragte Tarweder und deutete auf eine bestimmte Stelle. Dann wandte er sich einer anderen zu. »Und dies scheint mir Laxmias Axiom der Wechselwirkungen von Licht und Gravitation zu sein.«
»Ich habe gehört, dass man Sie den Weisen nennt«, sagte Nevoth mit neuem Respekt. »Aber ich wusste nicht, dass Sie in Mathematik bewandert sind.«
»Ich habe zu Laxmias Lebzeiten mehrmals mit ihr gesprochen«, erwiderte Tarweder nicht ohne Stolz. »Ebenso mit anderen Gelehrten. Schon in einer frühen Phase meines Lebens habe ich die Erfahrung gemacht, dass es nicht schadet, den geistigen Horizont in alle Richtungen zu erweitern.« Er vollführte eine Geste, die der ganzen Formel galt. »Was versuchen Sie zu berechnen?«
»Die Antwort auf die Frage: Warum sind wir hier?« Nevoth winkte mit seinen dünnen Armen und schien Dominique zu vergessen, als er zu Tarweder trat. »Warum gibt es uns? Wer oder was hat diese Welt und ihre Dominien erschaffen? Was ist die Kraft hinter dem mutativen Einfluss des Odems? Was bewirkt den Schlaf, der manchmal auch zu uns ins Zweite Dominium kommt?«
Tarweder nickte. »Was ist der Sinn des Lebens?«
»Genau«, bestätigte Nevoth aufgeregt. »Es freut mich sehr, dass Sie verstehen! Fast mein ganzes Leben lang habe ich an dieser Formel gearbeitet, und ich stehe unmittelbar vor einem endgültigen Erfolg. Aber irgendwo hat sich ein verdammter Fehler eingeschlichen, und ich finde ihn nicht!«
Die letzten Worte klangen fast schrill, und Dominique bekam im Tal-Telas einen vagen Eindruck vom Bewusstsein des Realitätsmechanikers. Sie fühlte einen extrem labilen Geist, hin und her gerissen zwischen Euphorie und Verzweiflung. Manisch-depressiv , diagnostizierte sie und fragte sich, ob sie von einer solchen Person wichtige Informationen erwarten durfte. Andererseits: Bei Manisch-Depressiven gab es oft einen Keim von Genialität, manchmal auch mehr.
Die beiden Männer – der alte Tarweder und der kaum jüngere, verkrüppelte Nevoth – gingen an der langen Wand mit den Tausenden von mathematischen Symbolen entlang und sprachen leise miteinander. Dominique näherte sich ihnen und sah, wie Kiwitt aus dem Rucksack kroch und
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