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Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
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reden.
    Die vielsprachigen Fachbegriffe und Abkürzungen flogen hin und her. Ich hatte das Gefühl, in einem Geheimclub gelandet zu sein, der eigene Sprachregeln und Rituale hat, die ich zunächst überhaupt nicht durchschaute. Auch wirkte die Europäische Kommission auf mich wie eine Festung, in die man schwer eindringen kann. Damals handelte es sich allerdings noch um die berüchtigte »Santer-Kommission«, die später in einem Korruptionsskandal unterging, den ich als Brüsseler Korrespondentin noch ein Stück begleiten konnte. Dass wir damals heimlich mit der Kamera filmen mussten, weil wir keine Drehgenehmigung für die Flure im Kommissionsgebäude bekommen hatten, trug auch nicht gerade zu meinem Vertrauen in diese Institution bei. Es dauerte lange, bis ich mich besser zurechtfand und dann auch die schönen Seiten genießen konnte: das Zusammensein mit europäischen Kollegen; das »Europa-Gefühl«, das in Brüssel aufkommt; die spannenden Gipfel, bei denen es um wegweisende Entscheidungen geht, die das Schicksal des ganzen Kontinents lenken. Und so wuchs mein Verständnis dafür, mit welchen Mechanismen dieses »Europa« versucht, die vielen Mitgliedsstaaten unter einen Hut zu bekommen, und dass das zwangsläufig kompliziert ist.
    Am Ende blieb für mich die Erkenntnis: Die EU ist nicht nur eine großartige Idee, sondern auch eine Institution, an der festzuhalten sich lohnt. Aber: sie hat ein gewaltiges »Transparenz-Defizit«. Sie vermag es noch viel weniger als nationale Regierungen, den Bürgern klarzumachen, wie sie entscheidet, wie sie »funktioniert«. Das ist fatal. Das Gefühl, dass da ein Koloss entstanden ist, der über eine unüberschaubare Zahl von Regeln in undurchschaubaren Prozessen entscheidet, gegen die man sich als Einzelner kaum wehren kann, führt zu Misstrauen und kalter Entfremdung.
    Hinzu kommt der Eindruck, dass innerhalb dieses Kolosses noch viel mehr Interessenpolitik betrieben und Geld verschwendet wird als auf nationaler Ebene. Das stimmt so zwar nicht, aber die Frage, wo das alles hinführt und ob Europa an seiner eigenen Größe irgendwann regelrecht erstickt, muss gestellt werden. Wenn Politik nicht mehr vermittelbar ist, wenn der einzelne Wähler den Eindruck hat, nicht mal mehr ein Sandkorn im Getriebe zu sein, dann geht das auf Dauer nicht gut.
    Dass das Europa-Parlament heute viel mehr Rechte hat als früher, ist natürlich extrem wichtig. Aber es scheint mir realitätsfern, zu glauben, dass deshalb die Europa-Wahlen auch von den Bürgern in naher Zukunft als viel wichtiger empfunden werden und wir künftig alle gespannt den Debatten in Straßburg folgen. Schon in Deutschland kennt man nur eine überschaubare Zahl von Bundestagsabgeordneten, und die meisten Parlamentsdebatten werden unter ferner liefen geführt.
    Wenn überhaupt Auszüge aus den Europa-Debatten in unseren Hauptnachrichtensendungen gezeigt werden, dann sind es in der Regel die deutschsprachigen Parlamentarier, die zu Wort kommen. Und das sind dann auch immer dieselben drei, vier Gesichter. Was Franzosen oder Engländer im europäischen Plenum gesagt haben – who cares? Das kann man sehr bedauern, aber es wird auch nicht besser, wenn man ein Ideal propagiert, das zum jetzigen Zeitpunkt nicht realistisch ist. Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen eine Sprache gesprochen wird und ein Nationalgefühl vorherrscht, das tief in der Gründungszeit des neuen amerikanischen Kontinents wurzelt.
    Vielleicht ist das in 100 Jahren anders, und ohne Visionen würde Geschichte auf der Stelle treten. Vor 70 Jahren hat man sich auch nicht vorstellen können, dass auf den Trümmerfeldern des Zweiten Weltkrieges eine Europäische Union entstehen würde, in der so eng zusammengearbeitet wird, wie das heute der Fall ist. Aber bis auf Weiteres ist das geschichtsträchtige Europa immer noch ein Bund von Nationalstaaten, die sich wiederum in Regionen aufteilen, deren kulturelle und emotionale Bedeutung viel ausgeprägter ist als in einem US -County oder -District.
    Heißt das also, die EU ist ein auf Sand gebautes Kunstprodukt? Nein! Die EU zu gründen, war eine der besten Ideen, die europäische Politiker je hatten. In diesem Punkt kann man ruhig idealistisch sein, ohne zu romantisieren. Und ich bin überzeugt: Man sollte an die europäische Idee glauben. Wenn in Griechenland deutsche Fahnen brennen, ist das zwar ein heftiger Ausbruch ungezügelter Wut und Sündenbocksuche – aber daran ist keineswegs die

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