Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
Mehrheit der Griechen beteiligt. Die Wütenden genießen immer viel mehr Medienaufmerksamkeit als die Besonnenen, das sollte man nicht vergessen. Und Stimmungen ändern sich schnell. Vor noch gar nicht so langer Zeit haben die Griechen »Otto Rehakles« gefeiert für die gewonnene Fußball-EM (denn Otto Rehagel war ja Trainer des griechischen Nationalteams), und das Deutsche klang unheimlich gut in griechischen Ohren.
Wohin uns die aktuelle Krise führt, ist schwer vorhersehbar. Aber was auf dem Spiel steht, das sollte man sich schon vor Augen führen, bevor man sich leichtfertig abwendet oder zentrale Bestandteile dieses Projekts für gescheitert erklärt. Die Vorstellung, dass es später im Geschichtsbuch tatsächlich heißt: »Leider haben nationale Ressentiments und kurzfristiges Denken dazu geführt, dass die europäische Idee scheiterte«, wäre für mich jedenfalls sehr bitter.
Krieg und Frieden: die Anfänge der EU
Der große französische Schriftsteller und Abgeordnete Victor Hugo hatte schon 1849 einen Anti-Kriegs-Kongress prophezeit: »Der Tag wird kommen, an dem ein Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin unmöglich erscheinen wird.« Welch ein Visionär! Es folgten noch zwei Weltkriege, die den Kontinent halb ausgelöscht haben, und das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland wurde noch 100 Jahre lang als »Erbfeindschaft« beschrieben.
Feindseligkeiten und blutige kriegerische Auseinandersetzung waren der Normalzustand in Europa. Meine Eltern und Großeltern haben das noch miterlebt. Nicht lange her also. Die letzten 60 Jahre? Eine unfassbar lange Zeit des Friedens und des Wohlstands. Nichts davon ist selbstverständlich, wir empfinden es nur so: Ferien auf Mallorca, die Tochter studiert in Maastricht, Grenzen gibt es nicht mehr, und selbst die Engländer finden uns »Krauts« seit dem Fußball-Sommermärchen gar nicht mehr so übel. Kein Jugendlicher, der heute mit dem Rucksack durch Europa reist, macht sich groß Gedanken, wie toll das ist, ganz Europa so selbstverständlich als Freundesland wahrzunehmen. Und kann sich irgendeiner von uns vorstellen, dass wir gegen die Franzosen jemals wieder Krieg führen könnten? Natürlich nicht. Das erscheint unmöglich. Victor Hugos Vision ist Realität geworden.
Um jetzt mal ein bisschen pathetisch zu werden: Ich kann mich daran immer wieder begeistern. Aber brauchte man dafür die EU ? Ein paar Friedensverträge und ein bisschen Schüleraustausch hätten es doch vielleicht auch getan? Vielleicht. Aber ein paar Friedensverträge, ein paar Allianzen, diverse »Staatenbünde« und kulturellen Austausch gab es in früheren Jahrhunderten schon. Getragen hat das nie. Die EU hat viel mehr gemacht, als nur auf dem Papier festzuhalten, dass man künftig mal netter zueinander ist. Sie hat Nähe geschaffen. Abhängigkeiten. Gemeinsamkeiten. Ökonomische Vorteile, die keiner mehr aufgeben will. Politische Prozesse, aus denen man nicht einfach aussteigt.
Natürlich spielte dabei der Kalte Krieg eine sehr große Rolle: Einen gemeinsamen Feind zu haben (Sowjetunion und Ostblock), das verbindet. Aber die europäische Integration hat dieses Gefühl in institutionelle Verbindlichkeiten gegossen. Europa ist heute weit mehr als nur ein (unverbindlicher) Staatenbund. Man hat eine »supranationale« Zusammenarbeit begründet, die es in dieser freiwilligen Form vorher zwischen Nationalstaaten noch nie gab. (Supranational heißt überstaatlich. Man hat Ziele, die über die Interessen der einzelnen Staaten hinausgehen, und gibt dafür auch eigene Souveränität ab. Konkret: Die EU kann Regeln erlassen, an die sich alle ihre Mitglieder halten müssen. Sie ist den einzelnen Staaten übergeordnet und damit mehr als die Summe ihrer Einzelteile.) Heute ist die EU eine »Wirtschafts- und Währungsunion«, einschließlich gemeinsamer Währung. Wenn man bedenkt, dass es vor sechs Jahrzehnten mit ein bisschen Bergbau anfing, ist das eine ziemlich atemberaubende Entwicklung.
Von Anfang an spielten dabei wirtschaftliche Interessen eine entscheidende Rolle. Neben der Friedensvision und dem Wunsch, gegenüber dem feindlichen Ostblock näher zusammenzurücken, ging es vor allem ums Geld. Im Grenzgebiet Deutschland/Frankreich wurde viel Bergbau betrieben, Kohle wurde gefördert und Stahl geschmolzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlug der französische Außenminister Robert Schuman den Deutschen vor, Produktion, Vermarktung und Verkauf
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