Kapital: Roman (German Edition)
Abwechslung mal ganz alleine unglücklich sein. Sie waren zwar mittlerweile so reich, dass er problemlos nach Hause hätte fliegen können, um für eine Woche seine Frau und seine Töchter zu besuchen, aber auch das kam ihm irgendwie unmännlich vor. Es würde so aussehen, als wäre er ein Kind, das zu Mama gelaufen kam, um sich von ihr trösten zu lassen.
Also hatte Patrick den größten Teil der Woche ganz für sich allein.Die Haushälterin bereitete das Essen vor und hinterließ Anweisungen darüber, wie er es aufwärmen konnte. Die Mahlzeiten standen in Plastikbehältern im Kühlschrank und die Anweisungen in Druckschrift auf einem Notizblock neben dem Herd. Wenn sich Patrick dann, den Anweisungen folgend, dass Essen aufwärmte, fügte er immer noch einen ordentlichen Schuss Chillisoße hinzu, um das Ganze genießbar zu machen. Während der ersten beiden Tage rief Mickey an, um zu hören, wie es ihm so ging. Patrick war dankbar dafür, dass Mickey sich Gedanken um ihn machte, aber er versteckte seine Dankbarkeit hinter einem schroffen Ton, weil er Angst hatte, zu überschwänglich zu wirken. Das machte er so überzeugend, dass Mickey dachte, er ginge Patrick mit seiner Besorgnis auf die Nerven, und sich daraufhin nicht mehr meldete. Freddy rief jeden Abend an. Meistens war im Hintergrund Musik zu hören oder das Lachen der anderen. Freddy war glücklich. Er mochte es, von vielen Menschen umgeben zu sein. Patrick Kamo hingegen – allein in einem Haus in London, im regnerischen nicht existenten englischen Sommer – war so einsam, gelangweilt und unterbeschäftigt, wie er es in seinem ganzen Leben noch nie gewesen war.
Er fing an, Spaziergänge zu machen. Bisher hatte er die Stadt hauptsächlich aus dem Fenster eines Autos heraus kennengelernt, für gewöhnlich während er mit Freddy und Mickey irgendwo hingefahren oder von dort zurückgekehrt war. Ab und zu war er auch mal um den Block gelaufen, um einzukaufen, oder einfach nur, um ein paar Minuten aus dem Haus herauszukommen. Freddy konnte mittlerweile kaum noch in die Öffentlichkeit gehen, ohne dass ihn jemand erkannt hätte, weshalb sie ihre Zeit hauptsächlich innerhalb von Gebäuden oder Autos verbrachten. Aber da er nun auf sich gestellt war, beschloss Patrick, das zu ändern. Am Dienstag lief er durch den Park gen Süden, an Balham und Tooting vorbei, und begriff zum ersten Mal ein wenig die Struktur dieser Stadt: An den alten Hauptstraßen drängten sich die Geschäfte, umgeben von endlosen Blocks und Straßenzügen voller Wohnhäuser,die alle identisch aussahen und auf engstem Raum zusammengepfercht waren, und dazwischen lagen die offenen Flächen der Grünanlagen. Dann lief er eine Weile nach Osten, in Richtung Streatham, und versuchte schließlich, in einem Bogen wieder nach Hause zurückzukehren. Als er auf die South Circular Road traf, folgte er ihr einfach. Der Verkehr auf dieser Straße war gänzlich zum Erliegen gekommen, und er lief in seinem gemütlichen Spaziertempo an Hunderten, wenn nicht gar Tausenden Autos vorbei. Als er King’s Avenue erreichte, erkannte er den Grund für den Stau: Mitten auf der Straße stand ein Hubschrauber, flankiert von zwei Polizeiautos mit eingeschaltetem Blaulicht. Er hatte von diesen Rettungshubschraubern gehört, aber noch nie einen gesehen. Hinter einer Absperrung stand ein Polizist asiatischer Herkunft und ließ die Fußgänger passieren. Ein weißer Lieferwagen hatte sich über zwei Spuren quergestellt, und es sah aus, als wäre etwas unter seinen Vorderreifen eingeklemmt. Aus der gebückten Haltung und den ernsten Mienen der Männer, die neben dem Lieferwagen standen, konnte man schließen, dass sich dort etwas übel verkeilt haben musste. Ein Fahrrad. Der Fahrer konnte unmöglich überlebt haben. Patrick verspürte Mitleid, aber auch vollkommenes Unverständnis: Dies war ein so reiches Land, warum sollte jemand mit dem Rad fahren wollen?
Am nächsten Tag ging er nach Nordosten, in Richtung Stockwell. Er kam an geschäftigen Straßen und Wohnsiedlungen vorbei, wo er auf keinen Fall würde wohnen wollen. Hier wurde überwiegend Portugiesisch gesprochen, obwohl es eine ganze Weile dauerte, bis er begriffen hatte, um welche Sprache es sich handelte. Er ging bis zum Fluss hinunter und sah sich dort ganz plötzlich und unerwartet dem House of Parliament gegenüber. Er blieb stehen, um den breiten grauen Fluss und die eleganten alten Gebäude anzuschauen, und während er das tat, trat eine Frau zu ihm und bat
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