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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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ihn, ein Foto von ihr und ihrer Freundin zu machen. Es war das erste Mal, dass jemand mit ihm sprach, seit Mickey es aufgegeben hatte, ihn anzurufen. Er blinzelte, um besser sehen zukönnen, schaute durch den Sucher und machte ein Bild von den beiden Frauen mittleren Alters, die dort in ihren Anoraks standen und sich an den Armen untergehakt hatten, während im Hintergrund verschwommen das House of Parliament zu sehen war. Dann ging er wieder zurück nach Hause.
    Seine langen einsamen Wanderungen führten zwar nicht dazu, dass er London mit einem Mal ins Herz schloss, aber er bekam zumindest das Gefühl, die Stadt ein wenig besser zu verstehen – wie sie angelegt war, und welchem Rhythmus sie folgte. Und er begriff auch, was ihn an diesem Ort so irritierte: Es war der Eindruck, dass hier alle jederzeit mit etwas beschäftigt waren. Die Menschen waren nie untätig. Und das galt auch für die Zeit, in der sie eigentlich gerade nichts taten. Sie gingen mit ihren Hunden spazieren, oder besuchten Wettbüros, oder lasen die Zeitung, während sie an der Bushaltestelle warteten, oder hörten Musik mit ihren Kopfhörern, oder fuhren auf Skateboards über den Bürgersteig, oder aßen Fastfood, während sie die Straße hinunterliefen. Sie hörten nie auf, etwas zu tun, auch wenn sie nichts taten.
    Am dritten Morgen wachte Patrick erst sehr spät auf. Der Baulärm, der in der Pepys Road nie verstummte, hatte es diesmal aus irgendeinem Grund nicht geschafft, bis in seinen Schlaf vorzudringen. Er aß ein wenig Toast und eine vollkommen geschmacksfreie Banane und goss sich seinen Kaffee einfach direkt in der Tasse auf, weil er keine Lust hatte, sich mit der Kaffeemaschine herumzuschlagen. Obwohl sie eine Bedienungsanleitung in Französisch hatte, verstand er einfach nicht, wie sie funktionierte. Danach schlurfte er ein wenig durch die Wohnung, zog sich an und verließ das Haus, als gegen halb elf die Haushälterin eintraf.
    Sein dritter Spaziergang führte ihn nach Norden, in Richtung des Flusses. Auf dem Weg durchquerte er eine Straße in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, durch die er noch nie gegangen war, obwohl sie sich direkt um die Ecke befand. Dabei entdeckte er einen Feinkostladen, ein Schuhgeschäft und ein Fitnessstudio, vor dem gerade ein außerordentlich fetter, nach Atem ringenderMann sein Fahrrad abschloss. Dann gab es noch ein privates Taxiunternehmen, einen Pub und eine Pizzeria, die entweder noch nicht geöffnet oder endgültig das Geschäft aufgegeben hatte; es war unmöglich zu erkennen, welches von beidem zutraf. Am Fuß der Anhöhe kam er an einem Gemüseladen vorbei, in dessen Schaufenster ein Schild mit der Aufschrift »Afrikanisches Gemüse« stand. Als Nächstes durchquerte er eine Bahnunterführung, in der ein riesiges Plakat mit der Nahaufnahme eines männlichen, nur mit einem Slip bekleideten Unterleibs hing. Danach kam er an einer Bushaltestelle vorüber, an der eine typische Londoner Menschenmenge wartete: Leute, die rauchten, Computerspiele spielten, Musik hörten oder vor sich hinstarrten, so als seien all diese Tätigkeiten an sich schon ein Beruf. Am Gasometer vorbei, durch den Park, vorbei an den Joggern und Radfahrern, hinunter zum Fluss und an der Uferpromenade entlang. Die Farben der Themse waren jedes Mal anders, je nachdem, in welcher Stimmung sich der Fluss gerade befand. Heute war einer der seltenen Momente, in denen man am Himmel ein wenig Blau erhaschen konnte, und der Fluss wirkte – das Blau widerspiegelnd – heller und glücklicher. Im Gegensatz zu afrikanischen Flüssen schien die Themse aber keinerlei Geruch zu verströmen. Patrick überquerte die hübsche, zart geschwungene, weiß gestrichene, schmiedeeiserne Brücke. Und wieder ging er an Autos vorbei, die im Verkehr steckengeblieben waren und in denen die Leute wütend herumsaßen, als sei auch dies eine Arbeit, der man nachzugehen hatte. Ein Paar in einem tiefliegenden Auto, einem Mini – das Mädchen trug auch noch einen Minirock – vertrieb sich die Wartezeit im Stau mit Knutschen. Sie gingen dabei ziemlich zur Sache. Patrick verspürte einen kurzen, stechenden Schmerz, Einsamkeit oder Lust, oder beides zugleich. Vielleicht hätte er in dieser Woche doch nach Hause fahren sollen.
    Am anderen Ende der Brücke war ein Pub, das Cat and Racket. Die Fenster bestanden aus Buntglasbausteinen, und die Lampen waren im Stil alter Gaslaternen gehalten. Patrick wünschte, erkönnte einfach dort hineingehen. Er hatte viel über Pubs

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