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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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wer er war. Er war nie ein Mann gewesen, der viele enge Freunde gehabt hatte, dafür war er viel zu zurückhaltend, aber er hatte zahlreiche Bekanntschaften gehabt, Leute, die ihm mit Achtung begegnet waren. In London hatte er niemanden, abgesehen von den Leuten, die dafür bezahlt wurden, höflich zu ihm zu sein, weil er Freddys Vater war. Er hasste das Haus in der Pepys Road, seine scheußliche Enge, seine so wenig ausladende Höhe und die ganzen teuren Geräte, die er nicht bedienen konnte. Er hatte sein Leben lang gearbeitet, aber hier bestand sein Job lediglich darin, Freddys Vater zu sein, und das konnte man nicht als Job bezeichnen. Ein Mann sollte zwar Vatersein, aber er sollte auch ein arbeitender Mensch sein. Und weil seine Arbeit nunmehr einzig und allein darin bestand, bei Freddy zu sein, hatte er das Gefühl, man hätte ihm beide Rollen auf einmal weggenommen – die des Vaters und die des Arbeiters. Und mehr als er es für möglich gehalten hätte, hasste er es, nicht bei seiner Frau und seinen Töchtern zu sein. Er hatte damit gerechnet, dass er sie ein bisschen vermissen würde, in einem erträglichen Ausmaß, ein kleiner Schmerz, wie Muskelkater. Stattdessen dachte er die ganze Zeit an sie. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie erst im Herbst zu Besuch kommen würden. Aber Patrick hatte keine Ahnung, wie er es schaffen sollte, so lange auf Adede zu verzichten, und auf den Duft, den ihre Haare verströmten, oder auf das Gefühl, seine beiden jüngsten Töchter Malé und Tina in die Arme zu nehmen, die dabei unweigerlich kreischen und kichern würden. Und natürlich würden sie in London einzig und allein shoppen gehen wollen – aber auch dabei würde er gerne zuschauen. Sie würden mit eigenen Augen sehen können, was ihr Halbbruder erreicht und welchen Status er nun hatte. Und vielleicht würde Patrick es sogar ein bisschen genießen, ihnen diese furchtbare Stadt zu zeigen, diesen Ort, den er so sehr hasste. Immer wenn diese vermaledeiten Postkarten und DVDs ankamen, die behaupteten, das haben zu wollen, was er hatte, wollte er schreien und brüllen und fluchen und jemanden schlagen. Es gab in seinem neuen Leben nichts, das er auch nur im Entferntesten gut fand.
    Aber all diese Gefühle behielt er für sich. Es war für ihn eine Frage der Ehre und des Prinzips, sich nicht zu beschweren. Das war einer der Gründe für sein Schweigen. Der andere war, dass alles andere Freddy gegenüber unfair gewesen wäre. Seinen Traum zu erfüllen, sein Talent in vollem Umfang auszuleben, mehr Geld zu bekommen, als es sich nur irgendjemand vorstellen konnte, ein Held zu sein und das zu tun, was er liebte und mehr wollte als alles andere auf der Welt – und sich dann von seinem Vater all dieses weinerliche Gejammer anhören zu müssen, das würde ihn amBoden zerstören. Freddy war ein guter Junge, und seine stärkste Motivation im Leben, abgesehen vom Fußball, bestand darin, es seinem Vater recht machen zu wollen. Er sollte nicht dadurch belastet werden, dass das, was er als das größte Glück empfand, seinen Vater unglücklich machte. Also schwieg Patrick. Er hätte vielleicht mit Mickey reden können. Mickey hatte Freddy in der Zwischenzeit so sehr ins Herz geschlossen, dass Patrick ihm immer mehr zu vertrauen begann; aber auch bei Mickey hätte Patrick das Gefühl gehabt, es sei eines Mannes nicht würdig, über seine Unzufriedenheit zu klagen. Er mochte Mickey, aber er wollte ihm gegenüber keine Schwächen zeigen.
    Diese Woche war besonders schwierig, weil Freddy mit dem Club zu einem Trainingslager auf den Azoren gereist war. Patrick hatte Mickey um Rat gefragt – sobald es um Freddys Interessen ging, war Mickey ein guter Ansprechpartner – und hatte sich daraufhin entschlossen, nicht mitzufahren. Sie waren nun bereits seit fünf Monaten in London, und vielleicht täte es Freddy einmal ganz gut, zum ersten Mal allein zu reisen. Obwohl »allein« in diesem Fall hieß, dass er mit einer Gruppe von fünfzig anderen Leuten unterwegs war, die er alle bereits kannte. Und außerdem gab es in dem Trainingslager absolut nichts zu tun, außer zu trainieren oder beim Training zuzuschauen, zu essen, zu baden, Spielaufzeichnungen zu analysieren und abends vielleicht eine DVD zu gucken. Es gab nichts, wodurch Freddy auf die schiefe Bahn geraten könnte (was ohnehin nicht in seiner Natur lag), und überhaupt nichts, was Patrick dort hätte tun können. Also entschloss er sich, in London zu bleiben. Er konnte zur

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