Kapital: Roman (German Edition)
noch?«
»Nicht mehr lang. Eine Woche.«
53
Parker rollte sich im Bett auf die andere Seite und murmelte etwas im Schlaf. In dem Hotelzimmer war es bereits vor sechs Uhr morgens hell geworden, weil die Jalousien viel zu dünn waren und darüber hinaus auch noch am seitlichen und unteren Rand die Sonne durchließen. Daisy, Parkers Freundin, war dadurch schon vor Stunden wach geworden. Sie lag da und war wütend auf die Jalousien. Am Erkerfenster hing ein riesiger, schwerer, scharlachroter Vorhang mit Rüschen, aber er war nur Dekoration und ließ sich nicht zuziehen. Das passte sehr gut zu diesem Hotel, in dem alles Mögliche nicht stimmte. Es gab vor, ein traditionelles, altmodisches Etablissement zu sein, ein Hafen der Ruhe und Ordnung, einer jener Orte, an denen dem Besucher vor Augen geführt wurde, wie das Leben sein sollte. Aber in Wirklichkeit war das Hotel mit lauter modernem Schnickschnack ausgestattet. Das Tageslicht machte keine Anstalten, Parker aufzuwecken. Er wälzte sich gelegentlich hin und her, machte kleine Schniefgeräusche und schien ansonsten von nichts etwas mitzubekommen. Schlafen hatte schon immer zu den Dingen gezählt, für die er eine außerordentliche Begabung hatte. Daisy, die ein bisschen mürrisch und unausgeschlafen war, erlaubte sich einen bösen Gedanken: Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn er auch in anderen Dingen ebenso begabt wäre wie im Schlafen. Aber sobald sie diesen Gedanken zugelassen hatte, sagte eine andere Stimme in ihrem Kopf, dass das nicht ganz fair sei. Parker hatte viele Talente, kein Zweifel. Er hatte nur einfach noch nicht so viel Glück gehabt.
Daisy hatte Parker angeboten, ihm ein Wochenende auf dem Land zu spendieren, um ihn ein wenig aufzumuntern, nachdem er seinen Job verloren hatte. So kam es, dass sie jetzt in diesem aufgetakelten kleinen Hotel in den Cotswolds waren. Wenn man ausdem Fenster schaute, konnte man Hügel, Schafe und Steinmauern sehen, und aus der Küche drang das nervige Geräusch einer Belüftungsanlage, die aber Gott sei Dank abends um halb zwölf Uhr abgeschaltet wurde. Es war Daisys Idee gewesen, ihr Geschenk an Parker, und sie hatte es gern getan. Daisy war Rechtsanwältin und verdiente bereits ziemlich gutes Geld. Sie und Parker waren schon seit dem letzten Jahr in der Oberstufe ein Paar. Das war jetzt fünf Jahre her.
So ein Wochenende unterwegs fühlte sich wie etwas sehr Erwachsenes an, besonders wenn man es mit seinem eigenen Geld bezahlte. Es war aufregend. Oder es sollte zumindest aufregend sein. Und eigentlich sollte man dabei viel kichern, sich in der Bar betrinken, lange Wanderungen unternehmen und viel Sex haben. Stattdessen standen ganz andere Sachen auf dem Programm: Parker dabei zusehen, wie er deprimiert vor sich hinstarrte, und Parker zuhören, während er sich darüber ausließ, wie unfair das Leben war und was für ein Riesenschweinehund sein ehemaliger Chef war, weil er ihn gefeuert hatte. Daisy wusste, dass Parker bei seinem früheren Arbeitgeber alle möglichen Vertraulichkeitsklauseln unterschrieben hatte, und dass es Grenzen dafür gab, was er ihr erzählen durfte. Und diese Grenzen hielt Parker, wie ihr auffiel, auch sehr gewissenhaft ein. Obwohl sie also wusste, dass sein Boss ein Scheißkerl war und ihn vollkommen grundlos gefeuert hatte, wirklich ein richtiger, echter, absoluter Scheißkerl, ein beschissener Scheißkerl voller Scheiße, der ihn ganz ohne Grund, vollkommen ohne irgendeinen Grund einfach so gefeuert hatte, war das in etwa aber auch schon alles, was sie wusste. Außer natürlich, dass es das Schlimmste war, was jemals irgendjemandem passiert ist. Das Schlimmste auf der ganzen Welt.
Nun – man konnte kaum abstreiten, dass es eine schlimme Erfahrung war. Daisy wusste, dass Parker schon immer ein Künstler hatte werden wollen. Er hatte diesen Wunsch schon in einem Alter gehegt, als andere Jungs noch Rennfahrer, Astronauten oder Popstars werden wollten. Er konnte sich an keinen Zeitpunkt seinesLebens erinnern, an dem das nicht seine größte, seine einzige Ambition gewesen wäre. Sein Traum, ein Künstler zu sein, war gleichzeitig ein Traum von Autonomie, von der Freiheit, zu denken und zu träumen, was auch immer er wollte, und dieses Denken und Träumen dann in einen Schaffensprozess umzuwandeln. Das Schaffen von – ja, vielleicht nicht das Schaffen von Objekten im primitiven Sinne, denn das konnte leicht zu einer minderwertigen und kommerzialisierten Form von Kunst werden, sondern das
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