Kapital: Roman (German Edition)
zumindest so geworden war. Sie war immer schon ein Mensch gewesen, der Angst hatte, zu viel von irgendetwas zu sein, zu laut, zu frech, zu auffällig, zu vorsichtig, zu pingelig, zu besorgt, zu was auch immer. Nachdem Mary in ihr eigenes Leben zurückgekehrt war, ihr eigenes Haus putzte, in ihrem eigenen Wohnzimmer herumfuhrwerkte und Ordnung schaffte, musste sie sich die Frage stellen, ob sie selbst tatsächlich so anders war. Was habe ich denn schon getan, das so wichtig gewesen wäre oder ausschweifend? Wenn meine Mutter ein zu kleines Leben gelebt hat, in welcher Hinsicht ist meines denn dann umfangreicher?
Weil sie also mit dem Kopf einfach nicht davon loskam, gelangte Mary zu dem Entschluss, dass es ihr besser gehen würde, wenn sie auch körperlich vor Ort wäre. Nachdem sie drei Tage zu Hause verbracht hatte, teilte sie Alan mit, dass sie wieder nach London zurückfahren würde.
»Es tut mir leid, Liebling«, sagte sie. »Ich denke einfach, ich sollte dort sein.«
»Mein armer Schatz«, sagte Alan. Sie kannte ihn sehr gut, gut genug, um zu wissen, dass der Ausdruck, der gerade über sein Gesicht gehuscht war, Erleichterung gewesen war. Das verdeutlichte ihr, wie schwierig es für ihn gewesen sein musste, mit ihr klarzukommen. Da sie auch nur ein Mensch war, nahm sie Alan dasübel, aber sie musste gleichzeitig zugeben, dass seine Gefühle wohl durchaus berechtigt waren. Also nahm sie den Zug zurück nach London. Die Fahrt dauerte fünfzig Minuten, aber sie kam ihr immer viel länger vor. Als Erstes fuhr man durch die ländlichen Gebiete von Essex, die Hügel und Felder und weit verstreuten Dörfer, dann folgten die niedrigen, ausgedehnten Vororte von London, dann die höheren Gebäude des East End, dort, wo man das Gefühl hatte, sich im alten London zu befinden, in der Stadt der Arbeiterklasse, an einem Ort, wo auch heute noch Lücken zwischen den Gebäuden an die Luftangriffe erinnerten. Kurz vor der Ankunft fuhr der Zug dann durch den plötzlichen, schockierenden Reichtum der City, bevor er in der Liverpool Street endete. Seit sie aus London weggezogen war, war diese Reise in Marys Augen schon immer die längste kurze Reise der Welt gewesen. Heute würde das letzte Mal sein, dass sie diese Reise unternahm, während ihre Mutter noch am Leben war; das letzte Mal, dass das Haus ihrer Mutter, das Haus, in dem sie aufgewachsen war, ein Ort in ihrem Leben war, an den sie sich flüchten konnte, wenn sie das brauchte. Ein Streit mit Alan, ein Abend in der Stadt, um ins Theater zu gehen, ein Besuch an Petunias Geburtstag – auch wenn es nicht viele dieser Gelegenheiten gegeben hatte, waren es doch genug gewesen, als dass die Pepys Road ein zweites Zuhause für Mary geblieben war, ein Zufluchtsort, eine Brücke zurück in ihr altes Leben. Das alles würde nun bald vorbei sein. Es war wie dieses Gefühl der Geborgenheit, das man hatte, wenn man als Kind auf der Rückbank des Autos hockte, während die Eltern vorne saßen. Plötzlich kommt ein Tag, an dem dieses Gefühl für immer verschwunden ist.
Am Ende dieses Frühlings gab es Tage, die sich, zumindest teilweise, schon sehr sommerlich anfühlten. Der Tag, an dem Mary in die Pepys Road zurückkehrte, war ein solcher Tag, sehr heiß und schwül. Das satte Grün im Park war zu dieser Jahreszeit immer von einem feinen Dunstschleier umhüllt. Später würde es austrocknen, und die Menschenmengen, die sich im Sommer durchden Park wälzten, würden es niedertrampeln. Mary ging von der U-Bahn zu Fuß zur Pepys Road Nummer 42, stellte ihren Koffer in den Flur, ging kurz aufs Klo und machte sich dann auf den Weg zum Hospiz. Es war nicht weit. Sie brauchte nur ungefähr fünf Minuten dorthin. Sie ging so langsam, wie sie konnte, und wünschte sich während des gesamten Weges, die Zeit möge sich ausdehnen, sich verlangsamen, und es möge sich herausstellen, dass das Hospiz viel weiter weg war, als sie geglaubt hatte, dass der Weg eigentlich viel länger war, obwohl sie doch genau wusste, dass dem nicht so war.
»Hallo, Sie sind aber früh zurück«, sagte die Frau an der Rezeption. Eines der Dinge, die Mary an diesem Hospiz mochte, war, dass man nie erklären musste, wer man war oder warum man hier war; sie erinnerten sich hier immer daran. Das machte die Sache viel einfacher.
»Ich hab’s nicht geschafft, so lange wegzubleiben«, sagte Mary. In ihrem Kopf hatten diese Worte eigentlich ganz leicht geklungen, doch sobald sie sie aussprach, wurden sie zu einer
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