Kapital: Roman (German Edition)
Verstehst du, was ich sage? Ich werde ohne dich nicht weiterleben.«
Sie sagte noch viele andere Dinge, von denen die meisten in dieselbe Richtung gingen. Zbigniew erkannte, dass es aus dieser Sache kein Entkommen gab. Er hatte noch nie jemanden so aufgewühlt gesehen. Und sie schien überhaupt nicht zu schauspielern, sie stellte ihre Gefühle nicht dar wie in einem Theaterstück. Ihre Verzweiflung war absolut echt. Sein Plan war ganz fürchterlich schiefgelaufen. Er konnte sie unmöglich in dieser Verfassung zurücklassen. Er spürte den Druck ihrer Isolation und Einsamkeit; etwas, von dem er zwar gewusst hatte, das er sich selbst gegenüber jedoch nie wirklich hatte eingestehen wollen. Der Eindruck aus jener ersten Nacht, als er sie mit einer anderen Frau an ihrer Seitein der Bar gesehen hatte, war vollkommen irreführend gewesen. Die andere Frau hatte gerade erst an Davinas Arbeitsstelle angefangen, und dieser Abend war das erste und letzte Mal gewesen, dass sie zusammen ausgegangen waren. Davina war von ihrer Umwelt abgeschnitten. Sie mochte andere Menschen nicht genug oder vertraute ihnen nicht genug, um Freunde zu haben. Und das machte alles noch viel schlimmer. Sie würde einen Nervenzusammenbruch erleiden oder sich umbringen, und er wäre schuld daran. Alles, was Piotr gesagt hatte, war wahr gewesen. Zbigniew war gefangen. Er spürte, wie sich eine dunkle Wolke auf ihn herabsenkte. Er hatte ihr das alles angetan und dadurch auch sich selbst. Es gab keinen Ausweg. Er streckte den Arm aus und berührte ihre Hand, die in ihrem Schoß lag. Sie reagierte nicht darauf. Dort draußen, in der frischen Luft, auf der Parkbank, umgeben von Joggern und Spaziergängern und während ganz London um ihn herum seinen Geschäften nachging, spürte er, wie ihn eine Mauer einzuschließen begann.
52
Der Sinn der Entlastungspflege besteht darin, der Pflegeperson eine Ruhepause zu verschaffen. Mary sehnte sich nach einer Pause, oder vielmehr, sie hatte dringend eine Pause nötig. Aber sie war nicht in der Lage, sich auch eine Pause zu gönnen. Als sie nach Hause zu Alan fuhr, nach Essex, in ihr eigenes Haus und zurück zu einem Leben, dessen Routine ihr hätte vertraut sein sollen, musste sie feststellen, dass sie dort nicht zur Ruhe kommen konnte. Ihre Gedanken waren bei ihrer sterbenden Mutter in London, und obwohl sie sich wünschte, dass es nicht so wäre, musste Mary erkennen, dass sie ihr eigenes Leben nicht mehr einfach so fortführen konnte, nicht einmal für ein oder zwei Wochen. Es war gar nicht mal so, als müsste sie die ganze Zeit an ihre Mutter denken, im Gegenteil, Mary fand es unerträglich, an ihre Mutter zu denken, die sie mittlerweile eigentlich schon verloren hatte. Petunia hatte sich von der Welt abgekehrt und sprach nicht mehr. Sie hatte ihr Gesicht zur Wand gedreht. Aber Mary, die es nicht ertrug, daran zu denken, konnte auch an nichts anderes denken. Sie war fort gewesen, hatte sich an einem anderen Ort aufgehalten, aber jetzt, da sie wieder zu Hause war, fühlte sie sich ganz genauso abwesend. Alan musste, was er zu ihr sagte, oft vier- oder fünfmal wiederholen, bevor sie ihn endlich hörte, und als sie sich mit zwei ihrer Freundinnen auf einen Kaffee traf – normalerweise eine Wiedersehensfeier, bei der es hoch her ging und die unweigerlich damit endete, dass sie sich ein Taxi nach Hause nahm, weil sie irgendwann alle auf Weißwein umgestiegen waren –, erwischte sie sich dabei, wie sie ganz tief im Innersten nach dem letzten bisschen Kraft graben musste, um genug Energie dafür aufzubringen, überhaupt etwas zu sagen. Sie konnte sehen, dass ihre Freundinnen die Veränderung bemerkten, die mit ihr vor sich gegangenwar, und sich entschieden hatten, nichts dazu zu sagen, aber sie wusste, dass sie darüber reden würden, sobald sie gegangen war. Sie ist kaum wiederzuerkennen. Total durcheinander. Sie nimmt es sich furchtbar zu Herzen. Arme Mary. Und Ähnliches mehr.
Einer der Gründe, warum Mary das alles so belastend fand, war die Erkenntnis, dass sie ihrer Mutter viel ähnlicher war, als es ihr je bewusst geworden war. Mary hatte ihre Mutter immer als eine Frau gesehen, die feststeckte, die innerhalb der Grenzen gefangen war, die sie sich selbst gezogen hatte, und die nur einen Bruchteil des Lebens ausschöpfte, das sie eigentlich hätte leben können. Sie hatte ihren Vater dafür verantwortlich gemacht, aber nachdem er gestorben war, stellte sich heraus, dass Petunia eben einfach so war oder
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