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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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unverhohlenen, verzweifelten Tatsache. Der Blick in den Augen der Frau zeigte, dass ihr das aufgefallen war.
    Mary hätte direkt zum Zimmer ihrer Mutter gehen können, aber sie entschloss sich, zunächst nach draußen in den Garten zu gehen. Es war einer von diesen versteckten, erstaunlich großen Gärten, die sich manchmal in London fanden. Es gab ein Gewächshaus, einen Bereich mit wildwachsendem Gras, einen Rasen, der zwar sauber gemäht, aber nicht übermäßig kurz gestutzt war, eine Reihe von Obstbäumen am unteren Ende und einen kleinen Weg am Rand, der an einer Seite von regelmäßig bepflanzten Rabatten gesäumt war. Petunia hatte diesen Garten mehrere Male besucht, wenn das Hospiz im Sommer einen Tag der offenen Tür hatte; und sie hatte ihn immer sehr bewundert und der Person, die für seine Pflege verantwortlich war, ihre Hochachtung gezollt. Und jetzt lag sie selbst im Hospiz und war zu krank, um sich an seinem Anblick zu erfreuen. Mary setzte sich für zehn Minutenauf eine Bank im Schatten eines Apfelbaums. Sie konnte spüren, wie die Hitze des Tages von ihr wich.
    Dann ging sie hinauf in das Zimmer ihrer Mutter. Das Hospiz war eine sehr angesehene wohltätige Institution, die es schon ziemlich lange gab. Das Haus fühlte sich ein bisschen so an, als hätte man einen Herrensitz aus früheren Zeiten, den fünfziger Jahren etwa, einfach vom Land in die Mitte der Stadt verfrachtet. Alles wirkte ruhig und ordentlich, und ein bisschen von diesem Gefühl ging auf Mary über, während sie sich dort aufhielt.
    Petunias Zimmer lag an der Vorderseite des Gebäudes. Aus dem Fenster konnte man die Kirche und den Park sehen. Man hörte ein wenig Straßenlärm, aber das schien sie nicht mehr wahrzunehmen. Eigentlich nahm sie gar nichts mehr wahr. Mary öffnete vorsichtig die Tür, um ihre Mutter nicht zu erschrecken, und machte vor Überraschung fast einen Sprung rückwärts, als sie sah, dass sich bereits ein Besucher im Raum befand. Da saß doch tatsächlich ihr Sohn Graham in dem ausgeleierten Ledersessel und tippte etwas in sein iPhone.
    Er blicke auf.
    »Hi, hallo, Mama«, sagte Smitty. »Sie schläft gerade.«
    »Graham!«, sagte Mary. »Was … äh … machst du denn hier?«
    »Ich war in der Gegend. Bin kurz auf einen Sprung vorbeigekommen, um Oma zu besuchen. Aber da war sie schon eingeschlafen, also … also, nichts also. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit du damals deinen großen Ausgehabend hattest.«
    »Das ist … nett«, sagte Mary und es misslang ihr gründlich, ihre Verblüffung zu verbergen. Ihr Sohn stand auf.
    »Ich hab noch was vor«, sagte Smitty. »Und mein Parkschein läuft gleich ab. Falls sie aufwacht, sag ihr doch, dass ich vorbeigeschaut habe, um Hallo zu sagen.« Er gab Mary einen Kuss auf die Wange und ging in sein geheimnisvolles Leben hinaus. Und es geschah nicht zum ersten Mal, dass Mary nach seinem Weggang dachte: Wie wenig ich doch über ihn weiß. Sie schaute ihm einen Moment lang nach und wandte sich dann ihrer Mutter zu. Petunialag auf der Seite, das Gesicht zum Fenster gedreht, und hatte die Augen geschlossen.
    »Mama?«, sagte Mary. »Mutti? Petunia?«
    Keine Antwort. Mary setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Auf dem Nachttisch standen eine Kanne mit Wasser, ein Glas und ein paar Schnittblumen. Mary spürte, wie sehr es sie belastete, hier in diesem Zimmer zu sein. Ein quälendes Gefühl des Verlusts erfüllte sie, das Bewusstsein des sich in Zeitlupe vollziehenden Todes ihrer Mutter. Und gleichzeitig passierte gar nichts. Die Zeit schien nicht zu vergehen. Ihre Mutter war, indem sie dem Tod so nahegekommen war, in einen Zustand reinsten Seins übergegangen. Mary empfand es als schwierig, einfach nur zu sein.
    Sie dachte: Ich bin diese ganze Sache leid. Meine Mutter wird sterben, und wenn sie schon stirbt, dann wünsche ich mir, dass es bald passiert. Es ist nicht mehr wichtig, was sie braucht, es ist viel wichtiger, was ich brauche. Eine Stimme in ihrem Kopf sagte: Mama, bitte geh bald.
    Eine Krankenschwester stand im Türrahmen. Mary konnte sich nicht erinnern, ob sie ihr schon einmal begegnet war, aber das schien nicht wichtig zu sein, denn die Frau wusste, wer sie war. Sie unterhielten sich eine Weile über Petunia.
    »Sie könnte heimkehren«, sagte die Schwester. Mary begriff, dass sie, um diesen Gedanken zu vervollständigen, die Worte »um zu sterben« hätte hinzufügen müssen. Und dass die Alternative war, dass ihre Mutter im Hospiz starb.
    »Wie lange

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