Kapital: Roman (German Edition)
erst seinen Freunden, dann den Freunden von Freunden, und schließlich hatte er sein eigenes Unternehmen aufgebaut, nur durch Mundpropaganda. Damals reichte es schon, wenn man gerade mal zwei Bücher über das Programmieren gelesen hatte, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Also stieg er ganz groß ins Geschäft ein und scheffelte mehr Geld als jemals zuvor oder danach in seinem Leben. Daswar vielleicht genau das Problem. Irgendwo tief im Innern hatte Shahid ein Bild von sich selbst als jemandem, der auf der Suche ist, sich treiben lässt, jemandem, der keinerlei feste Bande hat; und er konnte spüren, wie das Geld – das sich in einer guten Woche schon mal auf einen vierstelligen Betrag belaufen konnte – ihn immer mehr zu fesseln begann. Shahid wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis er auch die Art von Leben wollte, die zum Reichtum passte. An dem Tag also, an dem er einen richtigen Job angeboten bekam – das Erstellen einer Website für den Cousin eines Freundes, der mit dem Import von Stoffen ein Riesenvermögen gemacht hatte und nun vorhatte, ein noch viel riesigeres Vermögen zu verdienen –, hörte er von einem Moment auf den anderen mit dem Programmieren auf. Jetzt verbrachte er nur noch sehr wenig Zeit im Internet, das ihm mittlerweile, wenn er darüber nachdachte, wie eine gigantische kollektive Verschwörung vorkam, bei der es nur darum ging, so viel Zeit wie möglich zu verschwenden. Selbst wenn man ihrem Intellekt einen unendlich freien Raum zur Verfügung stellte, ging es den Leuten, wie sich herausstellte, am Ende doch nur darum, Bilder von Kelly Brooks’ Titten anzustarren. Shahid schrieb sich an der Birkbeck-Universität ein, studierte ein weiteres Jahr Physik, nur um dann erneut abzubrechen. Ahmed sagte daraufhin, dass er bei dieser Geschwindigkeit seinen Abschluss wohl im Jahr 2025 machen würde. Es war weniger die Arbeit selbst als vielmehr die tägliche Mühe, sich quer durch ganz London quälen zu müssen, die ihm die Bildungswut gründlich austrieb. Danach beschränkte sich Shahid darauf, Bücher zu lesen und im Laden zu arbeiten. Damit hatte er kein Problem. Er fühlte ein großes Potential in sich.
Shahid kam am Laden an und schaute auf die Uhr: pünktlich auf die Minute. Immer mehr Pendler hasteten vorüber, der morgendliche Ansturm wurde immer stärker. Einige machten eine schnelle Drehung, um in den Laden zu gehen, peinlich darum bemüht, den Laufrhythmus möglichst nicht zu unterbrechen und bloß nicht langsamer zu werden. Ach, die lieben Leute alle. Er folgte einemvon ihnen in den Laden und sah, dass sich an der Kasse bereits eine Schlange gebildet hatte. Während er nach hinten ging, brummte er nur kurz zur Begrüßung, als Revanche dafür, dass Ahmed auch nur kurz gebrummt hatte. Ahmed sah mal wieder so aus, als trüge er den gesamten Inhalt seines Kleiderschranks. Zusammen bedienten sie zehn Kunden, die typische morgendliche Ansammlung von Leuten, die Zeitungen oder Energydrinks kauften oder ihren Fahrkartenchip aufladen wollten. Rechts von den Regalen stand die Schlange zum Bezahlen, links die Schlange vor dem Ausgang. Dann kam eine Flaute.
»Eine Tasse Tee?«, fragte Ahmed, der ein wenig aufgetaut war. Er winkte mit seiner teigigen rechten Hand in Richtung des Wohnbereichs. Shahid nickte dankend und ging nach hinten.
Ahmed hatte keine Ahnung davon, aber Shahid war nicht ganz frei von Neid auf das Familienleben seines Bruders. Er spürte einen kleinen Stich, als er Rohinka sah, die in einem Topf auf dem Herd rührte, und Fatima, die in ihrer Schuluniform sehr sittsam und geschäftig wirkte und am Küchentisch sitzend mit einem gelben Textmarker eine Blume auf ein Blatt Papier malte. Mohammed saß in seinem Kinderstuhl, hatte einen leuchtend roten Strampelanzug an und schaute mit tiefer, andächtiger Konzentration auf seine Handflächen. Er hatte etwas an der Nase, das wie Bananenbrei aussah.
»Mohammed, sag deinem Onkel guten Tag«, sagte Rohinka.
»Nannan«, sagte Mohammed, ohne von seinen Händen aufzuschauen. Irgendetwas an ihnen nahm ihn vollkommen gefangen, es machte den Eindruck, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Er fing an, die Hände nach allen Seiten zu drehen. »Anan«, fügte er hinzu.
»Was gibt’s Neues?«, fragte Shahid seine Schwägerin. Rohinka hatte so etwas Zärtliches und Sinnliches an sich, dass sich Shahid sehr von ihr angezogen fühlte. Sie war so viel umgänglicher als sein steifer Bruder, es war geradezu lächerlich.
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