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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Hängematte … und in diesem Moment tauchte plötzlich wie aus dem Nichts Rogers Stellvertreter Mark im Türrahmen seines Büros auf. Das war ein nicht zu verachtendes Kunststück, wenn man bedachte, dass Roger den ganzen Handelsraum überblicken konnte. Aber Mark schien sehr stolz auf seine Fähigkeit zu sein, sich gerade in solchen Moment an Roger heranzuschleichen, wenn dieser nicht im Geringsten damit rechnete. Roger lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Tag und den Ort, an dem er sich in Wirklichkeit geradebefand. Eine Bilanz musste aufgestellt werden, es war ein Mittwochmorgen in der Londoner City, selbstverständlich regnete es, und alle Gebäude und Lebewesen in Sichtweite waren grau in grau.
    Mark klopfte mit dem Fingerknöchel an den Türrahmen – selbst diese Geste wirkte bei ihm irgendwie zappelig – und fragte: »Störe ich gerade?« Diese Frage stellte er immer, am Anfang eines jeden Gesprächs, das sie am Arbeitsplatz führten. Und da es sich dabei lediglich um ein Ritual handelte, betrat er im nächsten Moment einfach das Büro, ohne auf eine Antwort zu warten.
    »Die Bilanz«, sagte Roger. Er hatte gar nicht gewollt, dass die beiden Worte wie ein Seufzer klangen, aber er musste feststellen, dass sie sich genauso anhörten.
    »Die Bilanz«, sagte Mark, lief um den Schreibtisch herum auf Rogers Seite – das gehörte auch zu ihrer Routine – und breitete die Papierbögen vor ihm aus. Er sprach die Zahlen durch, die weder gut noch schlecht waren, und wies mit seinem roten Textmarker auf einige Punkte hin. Roger brummte und überließ es Mark, die Daten durchzusprechen. Ab und zu schweifte er mit den Gedanken wieder ab, und das Einzige, was er zu der Analyse beitrug, war zu brummen, zu nicken und gelegentlich auf ein paar Zahlen zu zeigen. So verhielt er sich heutzutage bei der Arbeit immer öfter. Das entsprang nicht etwa einem verzweifelten Wunsch, an einem anderen Ort oder ein anderer Mensch zu sein, sondern war vielmehr nur eine leichte Sehnsucht, eine sanfte Abwesenheit. Ein Teil von ihm war gar nicht da, und das mehr oder weniger die ganze Zeit. Nachdem Mark ungefähr zwanzig Minuten lang geredet, mit Zahlen jongliert und Argumente vorgebracht hatte, schaute Roger auf die Uhr und sagte, »Showtime. Wir müssen los.« Die beiden Männer klaubten ihre Dokumente zusammen und machten sich auf den Weg zum Konferenzraum. Roger wusste, dass er, falls es bei der Besprechung irgendwelche heiklen Fragen geben würde, das Ganze einfach an seinen Stellvertreter weiterreichen konnte.
    Und was diesen Stellvertreter anbetraf, und was der gerade dachte, nun …

79
    Mark, der über Rogers Schulter schaute, während er, wie üblich, die ganze Arbeit machte – Mark, der seit seiner Kindheit davon besessen war, die Welt unbedingt dazu zu bringen, dass sie ihn als den eigentlichen, wahren Helden in seiner eigenen Geschichte anerkannte – Mark dachte, dass er ein richtig böser Schlingel gewesen war. Genau diese Formulierung ging ihm ab und zu durch den Kopf, wie ein Werbejingle oder ein Popmusikohrwurm, eine Melodie, die man einfach nicht aus dem Hirn bekam. Ich bin ein richtig böser Schlingel gewesen, ich bin ein richtig böser Schlingel gewesen …
    Der Schrecken, den ihm die Sache mit Jez eingejagt hatte, als er fast an dessen Bildschirm erwischt worden wäre, war ziemlich übel gewesen. Mark dachte noch immer nicht gerne daran. Jez hätte zu seinem Boss gehen, hätte alles Mögliche tun können. Und davon abgesehen, jagte Jez ihm auch auf einer rein körperlichen, animalischen Ebene Angst ein. Aber ein gestandener Mann mit einem konkreten Ziel vor Augen ließ sich von solchen kleinen Rückschlägen nicht aus dem Konzept bringen. Mark hatte sich einfach ein oder zwei Monate sehr zurückgehalten und während dieser Zeit nicht in anderer Leute Schubladen oder Computern herumspioniert. Dennoch, er war, wie gesagt, ein gestandener Mann, und als solcher hielt er sich an seinen Plan und kam weiterhin jeden Tag vor allen anderen ins Büro. Auf diese Weise würde niemand eine Veränderung bemerken, wenn er sein Projekt dann wieder in Angriff nahm. So und nicht anders musste man denken, wenn man vorankommen wollte.
    Nach sechs Wochen kehrte Mark zu der Arbeit an seinem Projekt zurück und erlebte sofort einen Durchbruch. Einer seiner alten Kumpel aus dem Backoffice arbeitete jetzt in der Compliance,derjenigen Abteilung der Bank, die darüber wachte, dass die Angestellten auch die verschiedenen Gesetze und

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