Kapital: Roman (German Edition)
jemand, der sich Marks Kleidung genauer angeschaut hätte, festgestellt hätte, dass diese ganz spezielle Bankeruniform mit mehr Bedacht und Sorgfalt zusammengestellt worden war als die meisten anderen), aber die Person, die darin steckte, hatte ein Talent, wie es das nur alle hundert Jahre einmal gab. In dieser Hinsicht war Roger eine schmerzliche Enttäuschung. Mark hätte es verdient gehabt, einen würdigeren Gegenspieler auszutricksen. Früher einmal hatte er in Roger durchaus einen würdigen Gegenspieler gesehen, jemanden, der es wert war, ihm den Rang abzulaufen. Aber es wurde immer deutlicher, dass sein Boss diesen Erwartungen nicht gerecht wurde. Er war einfach der ihm zugedachten Rolle als Marks Antagonist überhaupt nicht gewachsen. Roger würde es in Marks Biographie nicht einmal zu einer Fußnote bringen.
»Nehmen Sie doch bitte die Dokumente mit, wären Sie so nett?«, sagte Roger und stellte damit Marks Einschätzung einmal mehr unter Beweis. Währenddessen driftete er in seiner typisch luftig-athletischen Manier in Richtung Ausgang. Für einen Mann seiner Größe bewegte sich Roger erstaunlich unentschlossen und weich, als könnte ihm der Vorsatz, sein Ziel auch zu erreichen, jeden Moment abhanden kommen. Er hatte eine Mappe unterm Arm, was seiner Ansicht nach ganz offensichtlich Grund genug war, seinen Stellvertreter den ganzen Rest tragen zu lassen. Er war so furchtbar ignorant, das war es, was Mark an Roger am meisten irritierte und was ihm so richtig unter die Haut ging. Was musste passieren, damit Roger wahrnahm, was um ihn herum vor sich ging? Eine Bombe unter seinem Stuhl? Mark wäre nicht überrascht, wenn er nicht einmal das bemerken würde. Nun, er würde es auf jeden Fall bemerken, wenn sich sein Stellvertreter seinenVorgesetzten zuwandte – Rogers Vorgesetzten, wohlgemerkt – und ihnen mitteilte, dass er gerade fünfzig Millionen Pfund verdient hatte, während Roger aus dem Fenster gestarrt und darüber nachgedacht hatte, wie er das Botox seiner Frau bezahlen sollte, oder worüber auch immer er gerade brütete. Vielleicht war Rogers Kopf im Innern ja wie eine dieser Simpsons -Zeichentrickfilme, in denen man sehen kann, woran Homer gerade denkt: Steppengräser, die vorbeiwirbeln, ein mechanischer Affe, der Purzelbäume schlägt, oder ein gigantischer Hamburger. Genauso musste es sein, wenn man in Rogers Haut steckte. Als wäre man Homer Simpson. Mit dem einzigen Unterschied, dass Roger größer und reicher war und in einer Bank arbeitete. Jedenfalls im Moment noch.
Roger – mit seiner dünnen Mappe unterm Arm – und der einen riesigen Papierstapel tragende Mark erreichten den Konferenzraum. Lothar saß bereits am Kopfende des Tisches. Wie üblich hatte er eine gesunde rote Gesichtsfarbe und sah sehr fit aus. Vor ihm lag ebenfalls eine dünne Mappe, und daneben stand ein großer Plastikbecher mit einer leuchtend grünen Flüssigkeit, bei der es sich höchstwahrscheinlich um einen seiner ekelhaft riechenden Gesundheitsdrinks handelte. Lothar sagte, was er immer zu Beginn einer solchen Besprechung sagte, eines der wenigen Wörter, bei denen sein deutscher Akzent voll zur Geltung kam:
»Chentlemen.« So wie er es sagte, klang es halb wie eine Feststellung und halb wie eine Frage.
80
Shahid hatte es sich angewöhnt, in einer Ecke seiner Zelle auf der Erde zu sitzen. Er war sich nicht sicher, warum er das tat, es war nicht bewusst geplant, und er hatte von dort aus auch keine interessantere Aussicht auf sein Bett oder seine Toilette. Aber seit er herausgefunden hatte, dass die Polizei glaubte, er und Iqbal seien Teil einer Verschwörung, deren Ziel es war, mit gestohlenem tschechischen Semtex einen Zug im Eurotunnel in die Luft zu sprengen, war er nicht mehr so sicher, dass sich die Dinge ganz von allein klären und ein gutes Ende nehmen würden. Auch wenn das, was ihm hier passierte, vollkommen absurd war, war er doch bisher immer fest davon überzeugt gewesen, dass es eine umfassendere Gerechtigkeit gab, die sich am Ende zu seinen Gunsten durchsetzen würde. Doch jetzt verlor er diese Überzeugung mehr und mehr. Es war nur zu klar, dass die Polizei ihm nicht glaubte. Sie hielten Iqbal für einen üblen Kerl, und soweit Shahid das beurteilen konnte, mochte das durchaus stimmen – »Sie wissen viel mehr über ihn als ich«, sagte er seinen Befragern immer und immer wieder –, aber sie dachten darüber hinaus auch, dass Iqbal und Shahid unter einer Decke steckten. Statt dass es nur um
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