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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Und es tut mir ganz schrecklich leid.«
    »Nein, ich sollte Ihnen danken. Wenn ich Sie jetzt nicht begleiten würde, müsste ich meine Buchhaltung machen. Ich hasse Buchhaltung.«
    »Ich weiß gar nicht, wie mir das passieren konnte. Plötzlich drehte sich alles, und schwupps lag ich auf dem Boden. Stellen Sie sich vor: Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ohnmächtig geworden bin. Da habe ich es geschafft, zweiundachtzig zu werden, bevor mir so was zum ersten Mal passiert. Da hatten Sie wohl Pech, nicht wahr?«
    »Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Ahmed.
    Es war ein klarer und kalter Tag. Das Licht war so hell, dass sich Ahmed mit der Hand die Augen abschirmen musste, während sie die Straße überquerten. Er dachte gerade, wie dünn Mrs Howe doch war, als er merkte, wie sie zitterte, vor Kälte oder Schock oder Müdigkeit, oder ein bisschen von allem. Petunia wusste, dass er ihr Zittern spüren konnte, und sie war sich auch der Tatsache bewusst, dass sie zum ersten Mal, seit Albert gestorben war, einen anderen Mann als ihren Schwiegersohn oder Enkel berührte.
    Ahmed, der immer irgendwie in Eile war und das Gefühl hatte, jeder Tag sei im Grunde genommen eine Gleichung mit zu vielen Pflichten auf der einen und zu wenig Zeit auf der anderen Seite, und dass die Liste der zu erledigenden Dinge niemals kleiner wurde, während die Zeit, die einem dafür zur Verfügung stand, stetig schrumpfte, empfand es als sehr seltsam, sich so langsam zu bewegen. Es war wie eine dieser Übungen, wo man die Leute aufforderte, rückwärts zu laufen oder mit verbundenen Augen durch ihr eigenes Haus zu gehen, damit sich die Dinge, die ihnen eigentlich vertraut waren, plötzlich ganz anders anfühlten. Er konnte nicht verhindern, dass die ersten Anzeichen einer Gereiztheit in ihm aufstiegen. Er fühlte sich oft gereizt, jeden Tag, wegen zahlloserverschiedener Dinge. Doch dann schaffte er es, sich wieder zu fangen und die Gereiztheit zu unterdrücken, indem er sich sagte, dass es sich nicht lohnte, eine gute Tat zu tun, wenn sie einen nur in schlechte Laune versetzte.
    »Plötzlich drehte sich alles im Kreis«, sagte Petunia, die immer noch von ihrer ersten Ohnmacht sprach. Dann sagte sie: »Da sind wir schon«, und öffnete die Tür zum Vorgarten des Hauses Nummer 42. Das Fenster hatte eine altmodische bunte runde Bleiverglasung mit einem abstrakten Muster. Ahmed fragte sich – er konnte es sich nicht verkneifen –, wie viel das Haus wohl wert sein mochte. Wenn es keine bautechnischen Mängel hatte, dann, schätzte er, wären es wohl so um die anderthalb Millionen, egal, wie schäbig es im Innern auch sein mochte.
    »Ich bin hier aufgewachsen«, sagte Petunia.
    »Ich bringe Sie noch rein«, sagte Ahmed. Er half ihr ins Haus. Seine Vermutung war richtig gewesen. Der Teppichboden war sauber, aber abgenutzt, die Tapete hatte ein scheußliches Blumenmuster, und das Telefon stand im Flur. Eine Million und sechshunderttausend. Ahmed rief sich zur Ordnung und konzentrierte sich wieder auf Mrs Howe. Sie diskutierten eine Weile, ob er ihre Tochter für sie anrufen sollte oder einen Arzt. Aber sie wollte nichts davon hören, und damit er endlich ging, musste sie ihm erlauben, ihr ab und zu die Zeitung vorbeizubringen. Sie hatte kein Abonnement, weil sie nicht jeden Tag Zeitung lesen wollte. Es stand ja zum Großteil doch nur Blödsinn drin, und warum sollte sie sich überhaupt noch auf dem Laufenden halten?
    »Okay, okay«, sagte Ahmed. »Ich schreibe Ihnen nur noch meine Telefonnummer auf.« Er hatte einen Stift, aber kein Papier und durchsuchte deshalb den Papierstapel auf dem kleinen Tisch, der neben dem Telefon an der Tür stand. Er fischte sich den Werbeprospekt eines Pizzaservice heraus und schrieb die Nummer auf die Rückseite.
    »Sie liegt hier neben dem Telefon«, sagte er. »Rufen Sie mich an!« Während er die anderen Prospekte wieder auf das Tischchenlegte, sah er, dass Petunia ebenfalls eine Karte mit einem Foto ihres Hauses erhalten hatte.
    »Wir haben heute Morgen auch so eine bekommen«, sagte er. »›Wir wollen was Ihr habt.‹«
    »Wenn Sie so alt sind wie ich, will niemand mehr das, was Sie haben«, sagte Petunia, und Ahmed lachte.
    »Wir älteren Leute sollten zusammenhalten, Mrs Howe«, sagte er. Normalerweise hätte sie mit einem Scherz geantwortet, aber sie war zu gedankenverloren, hatte sich zu tief in ihr Inneres vergraben, um wirklich wahrzunehmen, was er gesagt hatte.

8
    Die unbeliebteste Frau in der

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