Kapital: Roman (German Edition)
Pepys Road ging langsam die Straße hinunter, Angst und Schrecken verbreitend. Dafür nahm sie sich Zeit. Sie schaute von rechts nach links, sah nach vorn und zurück, und es entging ihr nicht die kleinste Kleinigkeit. Sie schien alle Zeit der Welt zu haben, aber gleichzeitig von einem starken Sendungsbewusstsein erfüllt zu sein. Sie sah nicht so aus, als wüsste sie, wie viel Angst und Schrecken sie verbreitete; aber das stimmte nicht. Sie wusste es nur zu genau.
Quentina Mkfesi, Bachelor und Master of Science (in Politikwissenschaft an der Universität von Zimbabwe, Thema der Magisterarbeit: Postkonfliktäre Lösungsmodelle in Gesellschaften mit nicht postkolonialem Hintergrund, mit besonderem Schwerpunkt auf Nordirland, Spanien und Chile), hielt Ausschau nach Nicht-Anwohnern und Besitzern von Firmenparkausweisen, die auf Anwohnerparkplätzen standen, und umgekehrt nach Anwohner- und Firmenparkausweisen, die nicht mehr gültig waren, nach Parkscheinen, deren Parkzeit abgelaufen war oder – und das lohnte sich in der Pepys Road besonders – nach Leuten, die die Parkverbotsschilder falsch verstanden und deshalb zwar einen Parkschein gelöst hatten, aber in einem Bereich parkten, der allein den Anwohnern vorbehalten war, statt in dem Bereich, der sowohl von Anwohnern als auch von Inhabern normaler Parkscheine genutzt werden konnte. Darüber hinaus achtete sie auf sorglos geparkte Autos, die die Durchfahrt versperrten oder mit einem Rad auf dem Bürgersteig standen, und verteilte Strafzettel für abgelaufene Kfz-Steuerplaketten. Sie war keine unmenschliche Politesse, denn sie gab den Leuten immer eine Gnadenfrist, wenn ihr Anwohnerparkausweis abgelaufen war oder sie die Straßenbenutzungsgebühren nicht bezahlt hatten. Aber sie wargründlich. Ihre Uniform bestand aus einer dunkelgrünen Jacke mit einem blassgrünen Gurt, einer Hose mit weißer Borte und einer Schirmmütze. Darin sah sie aus, als sei sie einem Film der Marx Brothers entsprungen, in dem sie einen ruritanischen Oberst der Zollbehörde verkörpern sollte.
Die Regierung, der Stadtrat und die Firma, für die Quentina arbeitete, stritten in der Presse regelmäßig ab, dass es eine Quote für das Verteilen von Strafzetteln gab. Aber jeder wusste, dass das eine glatte Lüge war. Natürlich gab es eine Quote. Quentinas Quote war zwanzig Strafzettel am Tag. Das brachte den Behörden Einnahmen von 1200 £, gesetzt den Fall, alle Strafzettelempfänger bezahlten innerhalb der zweiwöchigen Frist. Weil das aber viele nicht taten, war die Summe meistens noch höher. Falls keinem der gelegentlichen Einsprüche stattgegeben wurde – und Quentina war so gut in ihrem Job, dass sie unter allen Beschäftigten der Verkehrsüberwachungsfirma die niedrigste Anzahl stattgegebener Einsprüche hatte –, beliefen sich die Einnahmen auf eine Summe von ungefähr 1500 £ pro Tag. Bei 250 Arbeitstagen im Jahr bedeutete das, dass Quentina dem Staat jährliche Einnahmen von 375000 £ bescherte. Dafür bekam sie ein Jahresgehalt von 12000 £, vier Wochen bezahlten Urlaub und keinerlei Beiträge zur Kranken- oder Rentenversicherung.
Heute versprach, ein guter Tag zu werden. Nicht etwa, weil sie bereits zehn vollkommen wasserdichte Strafzettel ausgestellt hatte, und das noch vor zehn Uhr morgens – nein, das war eine leichte Übung und gehörte für eine so versierte und erfahrene Politesse wie Quentina zur Routine. Es gab einen ganz anderen Grund. Quentina und vier andere Arbeitskollegen, die ebenfalls aus Afrika stammten, spielten ein Spiel mit sehr einfachen Regeln: Es gewann immer die Person, der es gelang, dem teuersten Auto einen Strafzettel zu verpassen. Als Beweis musste man ein Foto liefern. Manchmal bestand der Gewinn darin, dass man auf einen Drink eingeladen wurde, oder man bekam 5 £ ausbezahlt, und manchmal ging es auch nur um die Ehre. Quentina hatte inletzter Zeit eine Pechsträhne gehabt. Aber jetzt schien sich das Blatt zu wenden. Quentina wusste zufällig, dass die Nummer 27 in der Pepys Road einem Rechtsanwalt gehörte, der für einen Premier-League-Fußballclub aus Westlondon arbeitete. Ab und zu mietete der Club das Haus. Es gab zwar auch clubeigene Häuser in der Nähe des Trainingsgeländes in Surrey, aber manchmal wollten die Leute lieber in der Stadt wohnen. Quentina hatte schon seit Längerem gedacht, dass dieses Haus der perfekte Ort war, um irgendwann ein sehr teures Auto ohne Anwohnerparkausweis zu erwischen. Also ging sie regelmäßig durch die Pepys
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