Kapital: Roman (German Edition)
Aber sie dorthin zurückschicken, wo sie hergekommen waren, konnte man auch nicht. Selbst wenn man die Sache realistisch und frei von jedem Idealismus betrachtete, musste man zugeben, dass das keine ideale Lösung war. Für die gescheiterten Asylbewerber hieß das konkret, dass man sie ins Gefangenenlager schickte.
Alison wusste, dass ihre persönliche Meinung über das System keinerlei Gewicht hatte. Deshalb versuchte sie einfach nur, innerhalb der Grenzen, die ihrer Macht gesetzt waren, so fair wie möglich zu urteilen. Wenn sie bei einem Asylbewerber die zuständige Richterin war, dann lagen seine Chancen, legal im Vereinigten Königreich bleiben zu dürfen, weit über dem Durchschnitt. Und sie hatte einen großen Vorteil: Sie konnte ihre jeweiligen Urteilssprüche sehr gut formulieren. Obwohl sie also bei einer prozentual auffällig hohen Anzahl von Fällen den Bewerbern ein dauerhaftes Bleiberecht zugesprochen hatte, ließ sich ihren Urteilsbegründungen, sobald sie einmal verlesen waren, nur mit großen Schwierigkeiten etwas entgegensetzen. Wann immer ihr Name auf der Prozessliste auftauchte, war der Anwalt des Asylbewerberssofort wesentlich besser gelaunt, und der des Innenministeriums stöhnte verzweifelt auf und versuchte, sich mit Red Bull zu wappnen.
Heute war es jedoch an Alison zu stöhnen. Sie hatte Menstruationsbeschwerden, ihr jüngstes Kind litt unter Ohrenschmerzen und hatte sie letzte Nacht dreimal aufgeweckt, und ihre Schwester hatte sich selbst übers Wochenende bei ihnen eingeladen und damit in allen Bereichen die Arbeitslast noch verdoppelt – kochen, putzen, spülen, trösten, Hände halten und sich Klagen über Schulen und Ehemänner anhören. Das Ergebnis war, dass Alison es als Erleichterung, wenn nicht gar als Vergnügen empfand, zur Arbeit zu kommen. Aber das hätte sie so gut wie niemandem gegenüber zugegeben. Somalische Opfer von Gruppenvergewaltigungen, gefolterte Syrier, genital verstümmelte Kikuyu-Aktivistinnen, chinesische Bandenbosse, die behaupteten, politische Dissidenten zu sein – her damit! Keiner dieser Personen musste man Nurofen verabreichen oder ihr versichern, dass sie keinen Tag älter als dreißig aussah. Als sie im Büro ankam, lag auf ihrem Schreibtisch bereits eine dicke Akte, die mit der traditionellen Schleife zugebunden war. Diese Schleife brachte sie jedes Mal dazu, an die Finger anderer Leute zu denken, und daran, was diese Finger schon so alles gemacht haben mussten.
Peter McAllister saß auf der anderen Seite desselben Schreibtisches und hatte dieselbe, dieser Bezeichnung nicht würdige Aussicht aus dem halbierten Fenster. Er dehnte sich und streckte dabei die Arme so hoch in die Luft, wie er konnte, was seinen Nadelstreifenanzug in die Höhe rutschen ließ. Er sah ein bisschen fett aus, fand Alison, ganz so, als könnte das, was er übers Wochenende an Sport trieb – irgendetwas mit Pferden –, seine übermäßigen Ess- und Trinkgewohnheiten unter der Woche nicht wieder wettmachen. Als sie ihn vor zwei Jahren kennengelernt hatte, war ihr erster Eindruck, dass es sich bei ihm um einen privilegierten Mann auf der Schwelle zum mittleren Lebensalter handelte, dessen bereits sehr früh gefasste Überzeugungen und Vorurteile denLauf der Zeit vollkommen unversehrt überstanden hatten. Dieser Eindruck war sehr akkurat gewesen. Genau das war Peter McAllister. Er war in Radley zur Schule gegangen, hatte in St. Andrews bei einem alten Freund seines Vaters studiert, danach zunächst im Handelsrecht praktiziert, es jedoch dann vorgezogen, in einen Bereich zu wechseln, in dem er sein Gehirn nicht ganz so stark beanspruchen musste. Deshalb war er hier gelandet, wo ihm seine klar umrissenen moralischen Überzeugungen zugute kamen. Er war Mitglied der Tory-Partei und überlegte zusammen mit seiner Frau – die in ihrer Ehe diejenige mit dem ganzen Geld war – andauernd hin und her, ob es ratsam wäre, sich bei der nächsten Wahl für seinen Wahlkreis aufstellen zu lassen. Realistisch gesehen würde er wohl besser fahren, wenn er zunächst um einen Sitz kämpfte, der ohnehin fest in der Hand von Labour war, und erst in der nächsten Runde auf einen zu setzen, den er auch gewinnen konnte. Dann wäre er Anfang vierzig. Mit genug Rückenwind hätte er in ein paar Jahren einen Ministerposten, und dann, wer weiß. Alles war möglich. In der Zwischenzeit opferte er sich an einer anderen Front in einem noblen Kampf auf und ließ traditionelle englische Werte in ein System
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