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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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ihre schriftlichen Unterlagen ab. Das Gebäude hatte die typische Ausstrahlung einer unterfinanzierten Behörde im öffentlichen Sektor: Nichts passte zusammen, und die Farben waren alle viel zu grell. Manchmal schien das ganze Haus nach Instantkaffee zu riechen. Und dies war der Ort, an dem sich das Schicksal von Quentina Mkfesi entscheiden würde.
    Die Anhörungen gingen immer gleich vonstatten. Jeweils montags setzten sich die Richter – ein separater Untersuchungsausschuss innerhalb des Justizministeriums – zusammen, überflogen die einzelnen Fälle und hörten sich die Aussagen der jeweiligen Zeugen an, die von ihren Anwälten vertreten wurden. Ein anderer Anwalt vertrat die Regierung und deren Recht, das Asyl zu verweigern. Dienstags gab es weitere Anhörungen. Mittwochs gingen die Richter nach Hause und lasen sich in die Fälle ein. Freitags trafen sie dann die Entscheidung und schrieben ihre Urteilsbegründung, die bestimmte, ob der Bewerber im Vereinigten Königreich bleiben durfte oder nicht.
    Daher war es von allerhöchster Bedeutung, welcher Richter dem Asylbewerber zugewiesen wurde. Und obwohl sie selbst das nicht wusste, hing Quentina Mkfesis gesamte Zukunft oder zumindest die nächsten Jahre ihres Lebens davon ab, welchem von den Richtern der Einwanderungs- und Asyluntersuchungsbehörde der Regierung ihrer Majestät der Königin ihr Fall zugeteilt wurde.
    Am Montag, den 22. September, trafen Alison Tite und Peter McAllister, beide Richter der Einwanderungsbehörde, fast gleichzeitig mit nur wenigen Sekunden Abstand am Arbeitsplatz ein. Sie teilten sich im zweiten Stock des Gebäudes ein Büro, das nur sehr notdürftig vom Nebenraum abgetrennt war und mit diesem ein Fenster gemeinsam hatte. Beide hatten sich einen Becher Kaffee mitgebracht, sie einen Cappuccino in einem Styroporbecher von einem kleinen italienischen Feinkostladen um die Ecke und er einen riesigen Becher mit sehr viel Milch von dem Starbucks an der U-Bahn-Station Chancery Lane.
    Alison Tite war eine siebenunddreißig Jahre alte Anwältin, hatte zwei kleine Kinder und war mit einem Versicherungsmathematiker verheiratet. Sie war ursprünglich im Familienrecht tätig gewesen, hatte dann jedoch ins Einwanderungsrecht gewechselt, denn sie war die immer gleichen Gestalten leid geworden, mit denen sie in ihrem früheren Betätigungsfeld zu tun hatte, und auch die heftige persönliche Verbitterung, die einem dort auf Schritt und Tritt begegnete. Die Arbeit im Einwanderungsrecht schien ihr viel näher am Tages- und Weltgeschehen zu sein, und das fand sie wesentlich befriedigender. Was sie an ihrem Job am meisten genoss, waren die zwei Tage, die sie damit verbrachte, sich mit den Einzelheiten und Hintergründen ihrer jeweiligen Fälle vertraut zu machen. Vor kurzem hatte sie zum Beispiel den Drachenläufer gelesen, als Hintergrundinformation zu dem schaurigen Fall eines Flüchtlings aus Afghanistan, dessen Bruder man zu Tode gesteinigt und dessen Familiengeschäft man erst mit Brandbomben zerstört und dann konfisziert hatte. Das hatte er zumindest so erzählt. Es klang irgendwie überzeugend und hörte sich ganz so an wie etwas, das die Taliban machen würden: erst Brandstiftung und dann Beschlagnahmung. Alison hatte seinem Gesuch stattgegeben. Sie mochte das Gefühl, dass die Menschen, die vor ihr standen, der Mann, die Frau oder das Kind, als Stellvertreter einer anderen Welt zu ihr kamen, einer anderen Lebensweise, und dass sie diese andere Welt erst einmal verstehen musste, bevor sie beurteilenkonnte, ob es dem Mann/der Frau/dem Kind erlaubt werden sollte zu bleiben, oder ob sie abgeschoben werden mussten. Ihr Lieblingsbuch hieß Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden .
    Die große Schwachstelle im System war, dass Abschiebung nicht unbedingt Abschiebung hieß. In fast allen Fällen war es rechtlich nicht möglich, den jeweiligen Asylbewerber nach Hause zu schicken, in den Sudan, nach Afghanistan, Zimbabwe oder wohin auch immer. Ein Asylbewerber, den man in ein Flugzeug verfrachtete und heimschickte, würde dort meistens der Folter oder dem Tod entgegensehen, oder auch beidem. Das war moralisch nicht vertretbar; aber was für das System noch wichtiger war, es war, gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention, auch illegal. Abgelehnte Asylbewerber durften nicht legal im Land bleiben, sie konnten kein Arbeitsverhältnis eingehen oder irgendwelche Leistungen vom Staat in Anspruch nehmen.

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