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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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»Nein« hätte auflisten können.
    Was sie jedoch nicht wusste war, dass Parker sich wünschte, er könnte ihr alles erzählen, dass er sich geradezu verzweifelt danach sehnte. Er wollte nichts mehr, als ihr die Wahrheit zu gestehen. Er wollte all die Schranken niederreißen, die er selbst künstlich aufgebaut hatte, er wollte dieses schäbig zusammengezimmerte Bauwerk aus Schweigen, Geheimnistuerei und falschem Ich zerstören und laut heulend mit allem herausplatzen, sich endlich davon befreien. Das Bedürfnis zu beichten stieg ihm wie Übelkeit in die Kehle. Und doch bekam er kein Wort heraus, und die beiden jungen Menschen, die sich liebten, blieben auch weiterhin in ihrem Elend gefangen.

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    Hätte man Quentina vorab gefragt, was sie sich von dem Auffanglager erwartete, dann hätte sie mehrere Dinge sofort richtig vorhergesagt. Sie hätte zum Beispiel prophezeien können, dass es dort keinerlei Privatsphäre geben würde, dass die männlichen Wärter nicht die geringsten Hemmungen haben würden, in die Zimmer der Frauen hineinzuplatzen und ihre Habseligkeiten zu durchsuchen, wann immer ihnen gerade danach war, und dass viele der Frauen, von denen einige fromme Musliminnen waren, furchtbar empört darüber sein würden. Da gab es also schon mal keine Überraschungen. Damit, dass man dort schlecht ernährt wurde, hatte sie durchaus auch gerechnet – aber sie hätte nicht gedacht, dass sie nach fünf Uhr abends nichts mehr zu essen bekam, und dass die Kinder, von denen es ziemlich viele gab, manchmal vor Hunger weinten. Sie wusste, dass es sich um ein Gefängnis handelte und sich auch so anfühlte. Was sie jedoch ebensowenig erwartet hatte, waren die internen Grabenkämpfe, die es dort gab. Als sie ankam, stellte sie fest, dass sich eine große Anzahl von Häftlingen im Hungerstreik befand, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Sie hatten eine Liste von fünfzehn Forderungen aufgestellt, unter anderem auch eine danach, dass man ihnen die Geburtsurkunden zurückgab, die man den im Vereinigten Königreich geborenen Kindern abgenommen hatte, und auch, dass das tägliche Taschengeld von einundsiebzig Pence wieder eingeführt wurde. Darüber hinaus forderten sie Zugang zu juristischen Informationen, denn die Mehrzahl von ihnen hatte keinen Rechtsbeistand.
    Quentina war mit allen fünfzehn Forderungen sehr einverstanden. Aber sie war gerade erst eingetroffen und immer noch ganz benommen und fassungslos von der Anhörung vor der Einwanderungsbehörde.Sie fühlte sich einfach noch nicht bereit, sich sofort in einen Hungerstreik zu stürzen. Die Gründe waren alle überzeugend und berechtigt, aber noch konnte sie sich nicht mit ihnen identifizieren – sie war vollkommen neu hier und hatte bisher nicht einmal von der Existenz des Einundsiebzig-Pence-Taschengeldes gewusst. Sie hatte nicht das Gefühl, lange genug in dem Auffanglager gewesen zu sein, um das Recht zu haben, sich über die Haftbedingungen aufzuregen. Im Augenblick versuchte sie einfach nur zu überleben.
    Die meisten hier fühlten da anders. Die Stimmung in der »Zuflucht« in Tooting war recht gedrückt gewesen, nahezu deprimiert, und die Menschen dort hatten hauptsächlich versucht, irgendwie durchzuhalten. Aber sie hatten doch alle mit dem Bewusstsein gelebt – auch wenn das nie offen ausgesprochen wurde –, dass man die guten Absichten ihrer Wohltäter anerkennen musste. Schließlich waren diese eifrig darum bemüht, ihnen zu zeigen, dass nicht alle Briten so grausam waren wie die Regierung oder die Medien. Im Auffanglager herrschte jedoch eine vollkommen andere Atmosphäre. Hier waren die Leute voller Wut, sie erstickten geradezu daran, und zwar die ganze Zeit. Sie hassten die englische Regierung, die Presse und die Lagerverwaltung. Im vergangenen Jahr hatte es sogar Ausschreitungen gegeben. Damals hatten die Aufseher versucht, die Häftlinge daran zu hindern, eine Dokumentation über die Haftbedingungen im Lager anzuschauen. Und es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, dass es ganz leicht wieder zu neuen Ausschreitungen kommen konnte. In der Zwischenzeit war man jedoch in den Hungerstreik getreten.
    Quentina wurde über alles Wesentliche von einer nigerianischen Ärztin namens Makela ins Bild gesetzt, die in ihrem Heimatland eine Klinik zur Behandlung von Opfern weiblicher Genitalverstümmelung geleitet hatte. Ihr Asylantrag war abgelehnt worden, weil die Behörden glaubten – oder zumindest vorgaben zu glauben –, dass ihr in Nigeria keine

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