Kapital: Roman (German Edition)
echte Lebensgefahr drohte. Auch Makela war wütend, aber nicht auf Quentina; sie verstand,dass Quentina sich als Neuankömmling nicht Hals über Kopf in die politischen Verwicklungen des Lagers stürzen konnte. Aber sie stellte ebenfalls klar, dass nach einer gewissen Zeit alle Lagerhäftlinge, die über ein einigermaßen politisches Bewusstsein verfügten, die Verantwortung hatten, Krach zu schlagen, insbesondere dann, wenn sie keine Kinder hatten.
Aber das würde erst irgendwann in der Zukunft der Fall sein – womöglich in sehr ferner Zukunft. Zum ersten Mal seit sie nach Großbritannien gekommen war, hatte Quentina den Mut verloren. Die Luft hier war so schwer zu atmen, war so voller Hass und Verzweiflung. Darum waren die Menschen hier auch so wütend: Es war besser, als sich die ganze Zeit besiegt, gebrochen und am Ende zu fühlen. Alles, was Quentina tun wollte, war, auf ihrem Bett zu sitzen und an die Decke zu starren. Nichts schien irgendeinen Sinn oder Zweck zu haben.
Die Anhörung beim Einwanderungsverfahren war ein Desaster gewesen. Ihr erster Eindruck von dem rotgesichtigen Richter, der bei der Verhandlung den Vorsitz führte, hatte ihr ein wenig Hoffnung gegeben. Er sah aus wie ein Mann, der einigermaßen vernünftige Entscheidungen traf. Aber schon am ersten Morgen wurde ihr klar, dass dieser Eindruck täuschte. Seine Fragen hatten alle irgendwie spitz und skeptisch geklungen. Wie genau war sie in das Vereinigte Königreich gelangt? Wie genau hatte sie ihren Lebensunterhalt verdient? Als die Anwälte der Regierung auf den Umstand hinwiesen, dass sie illegal gearbeitet hatte, sah sie, wie sich sein Standpunkt verhärtete. Von jetzt an gab er sich keine Mühe mehr, so etwas wie freundliche Unparteilichkeit vorzutäuschen. Bereits zu diesem Zeitpunkt, am Montagmittag, wurde ihr klar, dass man ihren Antrag ablehnen würde.
Am Ende des ersten Verhandlungstags drehte sich ihre Anwältin, eine sanfte, freundliche Frau mittleren Alters, zu ihr um und schnitt eine Grimasse.
»Das lief ja katastrophal«, sagte Quentina, um ihr die Mühe zu ersparen, etwas zu sagen.
»Ich wollte es nicht schon vorher beschreien«, antwortete die Anwältin, »aber er ist einer der Schlimmsten. Es tut mir sehr leid. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Falls wir verlieren, was aber noch gar nicht gesagt ist, dann haben wir immer noch die Möglichkeit, in Berufung zu gehen.«
Sie hatten zwar tatsächlich noch nicht verloren, aber es fehlte nicht mehr viel. Der Dienstag lief genauso schlecht wie der Montag. Der Richter hielt sich viel mehr bei der Tatsache auf, dass Quentina illegal gearbeitet hatte, als sich damit auseinanderzusetzen, was ihr in Zimbabwe vor ihrer Flucht zugestoßen war und was mit ihr geschehen würde, wenn man sie dorthin zurückschickte. Diese Fragen handelte er alle im Schnelltempo ab. Sein Urteil, das sie am darauffolgenden Montag erhielten, kam daher keineswegs überraschend. Sie sollte abgeschoben werden. Konkret hieß das, dass sie in ein Auffanglager für Asylbewerber geschickt wurde, wo sie dann das Ergebnis ihres Berufungsverfahren abwarten würde.
Sie war nun bereits seit zwei Monaten hier. Ein Minibus der privaten Sicherheitsfirma, die das Lager im Auftrag der Regierung als gewinnorientiertes Unternehmen betrieb, hatte sie hierhergebracht. Unter anderen Umständen hätte Quentina die Fahrt vielleicht sogar genossen, denn sie bekam dadurch die Gelegenheit, die berühmten grünen Wiesen Englands zu bewundern, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, es sei denn, man zählte den Park in der Stadt auch dazu. Es gab Ackerland, Kühe und Traktoren zu sehen. England bestand also tatsächlich nicht nur aus London. Irgendwie lustig, dass sie das erst jetzt herausfand, kurz bevor man sie zwingen würde, das Land zu verlassen. Ihr erster Blick auf das Hauptgebäude des Lagers hatte ihr ein wenig Hoffnung gemacht: Es war ein dreistöckiges modernes Gebäude mit einem Parkplatz davor. Jeder, der einigermaßen vertraut mit dem Baustil zeitgenössischer englischer Gebäude war, hätte das Ganze für ein Motel oder ein Kongresszentrum oder vielleicht auch ein Gymnasium halten können. Aber genau wie bei dem Richter stellte sich auchhier der erste Eindruck als ein Irrtum heraus. Das Aufnahmezentrum war nichts anderes als ein Gefängnis, wenn auch mit einem grausamen Unterschied: Die Menschen, die aus einem Gefängnis entlassen wurden, gelangten an einen besseren Ort. Aus diesem Lager jedoch kam man nur heraus, um an
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