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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Staub. Und darüber war er froh. Noch froher war er jedoch, dass sie sich nicht wie Piotr verhalten hatte, ihn nicht an den Pranger gestellt und ihm keine Predigt gehalten hatte. Aber sie hatte ihm unmissverständlich klargemacht, was er als Nächstes tun musste, und das war nicht das, was Zbigniew erwartet hatte. Er hatte sich auf weiteres Kopfzermartern gefasst gemacht, nur diesmal eben nicht mehr allein. Stattdessen hatte sie ihm einfach gesagt, er solle den Koffer nehmen und sofort zu Mrs Leatherby fahren: noch in dieser Sekunde.
    Ganz langsam und behutsam, als wollte er Matya in Versuchungführen, ihn doch noch aufzuhalten, fischte er sein Nokia N60 aus seiner Tasche, jenes Gerät, das sein Leben verändert hatte. Er fand die Nummer und hielt sie Matya vors Gesicht, damit sie sie sehen konnte. Matya bewegte sich nicht. Also drückte Zbigniew auf die Wähltaste.
    Das Telefon schellte sechs Mal. Okay, sie war nicht zu Hause. Zbigniew war im Begriff aufzulegen, als –
    »Hallo?«
    »Hier ist Zbigniew. Der Handwerker. Ich muss zu Ihnen kommen und etwas mit Ihnen besprechen. Heute, jetzt.«
    »Oh! Was ist passiert?«, fragte Mrs Leatherby.
    »Nichts. Aber ich muss mich mit Ihnen treffen. Ich kann es Ihnen nicht am Telefon erklären. Sind Sie zu Hause?« Natürlich war sie das, dort hatte er sie ja schließlich angerufen. Als sie ihm bestätigte, dass sie sich zu Hause befand, klang sie sehr besorgt, so besorgt, wie jemand nur sein konnte. Zbigniew sagte ihr, dass er in ungefähr anderthalb Stunden dort sein würde, je nachdem, wann ein Zug fuhr.
    »Aber du musst jetzt mit mir kommen«, sagte er zu Matya. Das war seine Rache.
    »Warum?« Matya verschränkte die Arme.
    »Ich kann unmöglich ganz mutterseelenallein irgendwo hinfahren, wo ich noch nie gewesen bin – und übrigens habe ich auch nicht die geringste Ahnung, wo das ist –, und dann noch einen Koffer mit einer halben Million Pfund mit mir rumschleppen.«
    Das war jedenfalls seine Ausrede. Sie hatte ein bisschen vor sich hin gemurrt und so getan, als würde sie es vorziehen, allein in ihrer Wohnung zu sitzen und Radio zu hören. Aber dann hatte sie nachgegeben. Sie hatten das Café verlassen und waren zur Pepys Road gegangen. Matya war das erste Mal wieder hier, seit sie aufgehört hatte, für die Younts zu arbeiten. Zbigniew hatte sie mit hoch in das Zimmer genommen, wo er sein Nachtlager aufgeschlagen hatte – es stank nach Farbe hier, was ihm immer nur dann auffiel, wenn er gerade von draußen hereinkam – und ihr den Koffergezeigt. Matya hatte erst den Koffer und dann ihn angeschaut und ein wenig traurig gesagt:
    »Das ist wahrscheinlich das einzige Mal in unserem Leben, dass wir so viel Geld zu Gesicht bekommen.«
    Und nun saßen sich Matya und Zbigniew in dem laut ratternden Zug nach Chelmsford gegenüber. Jedes Mal, wenn man glaubte, man habe London endlich verlassen und befände sich auf dem Land, wurde man doch wieder von irgendwelchen Vorstädten verschluckt. Einmal fuhren sie durch eine Landschaft von grünen Feldern, und Matya dachte, die Stadt läge nun wirklich hinter ihnen, aber dann tauchte schon wieder eine lange Reihe von Hochhäusern auf. Manche Abschnitte der Reise waren so schön, dass man auch in Ungarn nichts Schöneres hätte finden können. Aber auch in puncto Hässlichkeit standen sich die beiden Länder in nichts nach.
    Die Fahrt hätte eigentlich nur fünfundvierzig Minuten dauern sollen, aber einmal hielt der Zug einfach eine Viertelstunde lang mitten auf offener Strecke, ohne jede Erklärung, und nun hatten sie Verspätung. Das Abteil war voll. Schräg gegenüber saß ein junger Mann, der eine Baseballmütze ins Gesicht gezogen hatte und vor sich hinstarrte, während er Kaugummi kaute und mit seinen Kopfhörern Musik hörte. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Dose Bier. Zbigniew hatte kurz überlegt, ob er den Koffer in die Gepäckablage oberhalb der Sitzplätze legen sollte, aber dann gingen ihm Bilder durch den Kopf, wie der Zug plötzlich bremste oder ruckhafte Bewegungen machte, der Koffer herunterfiel, aufplatzte und die Luft sich mit Zehnpfundscheinen füllte, und wie ihm dann die anderen Passagiere mit offenem Mund dabei zuschauen würden, wie er durch die Gegend kroch und versuchte, das Geld einzusammeln … also nein, lieber nicht ins Gepäckfach. Und auch nicht ins Gepäckregal am Ende des Abteils. Schließlich stellte er den Koffer direkt vor seinen Sitz und klemmte ihn mit seinen Beinen ein. Jedes Mal, wenn Matya

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