Kapital: Roman (German Edition)
ihn anschaute, musste sie ein Lachen unterdrücken.
Sie kamen in Chelmsford an. Vor dem Bahnhof gab es einen Parkplatz und ein Café. Am Taxistand wartete ein einzelnes Taxi. Der Fahrer hatte die Augen geschlossen und eine Zeitung über seinem Bauch ausgebreitet. Matya zeigte auf das Café.
»Da warte ich auf dich. Wenn es absehbar ist, dass es mehr als eine Stunde dauert, ruf mich an«, sagte sie. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber, gab ihm einen Kuss und überquerte den Parkplatz.
Der Taxifahrer fuhr mit einem Ruck in die Höhe, als Zbigniew die Tür öffnete, und brauchte einen Moment, bis er ganz wach war. Die Fahrt zu Mrs Leatherbys Haus dauerte zehn Minuten. Sie kamen an lauter Wohnhäusern vorbei, die in Zbigniews Augen alle gleich aussahen. Es waren Bungalows oder etwas in der Art. Er hatte gedacht, dass es hier mehr wie auf einem Dorf aussehen würde, aber im Grunde genommen war es genau so eine Stadt wie London, nur kleiner. Zbigniew ließ sich die Telefonnummer des Taxifahrers geben und bezahlte ihn – fünf Pfund, viel billiger als in London. Nachdem er aus dem Wagen ausgestiegen war, wollte er gerade die Tür zuschlagen, als ihm klar wurde, dass er den Koffer auf dem Rücksitz hatte liegen lassen. Das wäre ein ziemlich gutes Ende für die Geschichte gewesen.
99
Mary hatte seit Zbigniews seltsamem Anruf versucht, sich pausenlos zu beschäftigen. Sie stand gerade an der Spüle in der Küche und reinigte ein paar Töpfe, die zwar theoretisch sauber, jedoch seit einer Weile nicht mehr benutzt worden waren, als sie sah, wie Zbigniew aus einem Taxi stieg und die Auffahrt des Hauses hochgelaufen kam.
Seit dem Tod ihrer Mutter hatte Mary sich zwar nicht die ganze Zeit elend gefühlt, aber dennoch irgendwie antriebslos. Das war das richtige Wort – antriebslos. Natürlich war sie sich darüber im Klaren, dass das, was passiert war, in gewisser Weise eine große Erleichterung gewesen war: Ihre Mutter war von ihrem Leiden befreit worden. Manche Menschen starben quälend langsam und litten fürchterlich, zuweilen über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Petunia hatte zwar gelitten, und ihr Sterben hatte sich viel zu lange hingezogen, aber es war nicht der schlimmste aller Tode gewesen, und darüber war Mary froh. Und ihr Tod hatte immerhin etwas Gutes mit sich gebracht – oder zumindest hätte man es aus einem abstrakteren Blickwinkel etwas Gutes nennen können. Der Wert des Hauses war auf 1,5 Millionen Pfund festgelegt worden, und der Makler war fest davon überzeugt, diese Summe auch herausschlagen zu können. Mary würde sich nie mehr Geldsorgen machen müssen. Falls sie es nicht wollte, brauchte sie sogar nie wieder an Geld zu denken. Alans Autowerkstätten liefen gut, und sie waren schon vorher wohlhabend gewesen – wie wohlhabend genau, wusste sie nicht, denn das gehörte zu den Fragen, die sie lieber nicht stellte.
Aber genau das war in Marys Augen das Problem. Die Gleichung war zu einfach und zu deprimierend. Auf der Sollseite stand, dass sie ihre Mutter verloren hatte, auf der Habenseite warein riesiger Haufen Geld. Es fühlte sich für sie so an, als hätte man ihr den letzten noch übrigen Elternteil weggenommen und ihr als Ausgleich dafür sehr viel Geld gegeben. Sonst hatte sich in ihrem Leben überhaupt nichts verändert. Alan war so solide und zuverlässig wie eh und je und – bei aller Solidität und Zuverlässigkeit – ein wenig zerstreut. Ben hatte sich hinter seiner üblichen Mauer verschanzt. Er tat so, als sei er immer beschäftigt. Entweder er war in seinem Zimmer und machte Gott weiß was im Internet, oder er ging aus dem Haus und machte Gott weiß was mit seinen Freunden. Mary war sich selbst nicht ganz im Klaren darüber, welche von diesen beiden Varianten sie schlimmer finden sollte. Der erfreulichste Zuwachs in ihrem Leben war ihr Hund Rufus, ein Yorkshire Terrier, der nun drei Monate alt war. Er war ein sehr freundliches, gutartiges, nicht besonders kluges Tier und schien das einzige Lebewesen zu sein, das es offensichtlich toll fand, sich in Marys Gesellschaft aufzuhalten. Als Zbigniew sich dem Haus näherte, rannte Rufus erst zur Tür, dann wieder zurück zu Mary, als wollte er nachschauen, ob sie auch wusste, was hier im Gange war – komm schnell, es gibt was Neues! –, und dann wieder zurück zur Haustür, um den erwarteten Eindringling anzubellen. Mary öffnete die Tür, während sie Rufus mit dem Fuß zurückhielt, was nicht besonders schwer war, denn eigentlich
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