Kapital: Roman (German Edition)
ihm auszugehen. Diese Zbigniew-Version in ihrer Erinnerung tauchte ab und zu aus der Versenkung auf und verwischte die Gefühle, die sie für den Zbigniew hatte, der im Hier und Jetzt vor ihr stand. Er wäre sehr überrascht gewesen, wenn er gewusst hätte, dass das größte Hindernis, das ihm bei Matya im Wege stand, ihre Erinnerung an jene Zeit war, als sie ihn noch lächerlich gefunden hatte. Als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte er gerade untergeordnete Arbeiten für die Younts ausgeführt. Eine Spur davon war in ihrem Gedächtnis immeran ihm haften geblieben – ähnlich wie sie gehörte er in gewisser Weise der Dienerschaft an. Und dass es sich bei ihr selbst nicht anders verhielt, machte die Sache schlimmer statt besser. Auch sah er keineswegs gut aus: Er hatte eines jener breiten, flachen, nichtssagenden slawischen Gesichter; seine Haare waren von einer so stinknormalen braunen Farbe, dass man sofort vergaß, wie sie aussahen, und immer überrascht war, dass sie das nächste Mal, wenn man ihn traf, entweder viel heller oder viel dunkler waren, als man gedacht hatte. Er war nicht hässlich, aber er war auch nicht attraktiv. Er fiel eben einfach nicht auf.
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Zbigniew hatte keine Ahnung, dass sein schlimmster Rivale der erste Eindruck war, den er bei Matya hinterlassen hatte. Er wäre vielleicht sogar erleichtert gewesen, das zu erfahren. In seinen Augen war der Koffer sein schlimmster Rivale. Er hatte ihn herausgeholt und auf seine Matratze in der Pepys Road Nummer 42 gelegt, bevor er sich für seine Verabredung mit Matya auf den Weg machte. Der Deckel war ganz von allein aufgeklappt, als er sich daneben gesetzt hatte. Durch einen seltsamen Streich, den ihm sein Gedächtnis spielte, sah die Geldsumme, die sich im Koffer befand, jedes Mal noch größer aus.
Vielleicht dehnten sich die Geldscheine ja aus. Oder vielleicht lag es daran, dass er verzweifelt versuchte, das Geld allein durch die Kraft seines Willens zu einem weniger großen Problem zu machen. Er versuchte, die Sache in Gedanken zusammenschrumpfen zu lassen. Als mentale Übung hatte das eine gewisse Wirkung, und es gelang ihm immer eine Weile, sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was er jetzt tun sollte. Die Geldsumme selbst ließ sich aber nicht so leicht schrumpfen. Jedes Mal wenn er nachschaute, sah es nach mehr aus.
Zbigniew war für gewöhnlich nicht anfällig für irrationale Ängste. Und er fand nicht, dass die Sorgen, die er sich machte, auch nur im Geringsten irrational waren. Er hatte das Geld viel zu lange behalten. Was auch immer er jetzt unternahm, er hatte bereits Schuld auf sich geladen. Es war schon ein Vergehen gewesen, das Geld nicht sofort Mrs Leatherby zu geben. Wenn man die 500000 £ direkt angelegt hätte, wären in drei Monaten bei einem Zinssatz von fünf Prozent 6000 £ zusammengekommen. So hoch war der Verlust, der ihr entstanden war, weil er nichts unternommen hatte. Indem er gar nichts getan hatte, hatte er sie schon bestohlen.Er hatte alle Aktien in seinen Wertpapierdepots verkauft, um damit … um damit … er war sich nicht sicher, was er damit hatte erreichen wollen. Der Geldbetrag, den er während seines Aufenthalts in London angelegt hatte, war – wegen der turbulenten Bedingungen am Finanzmarkt – um ungefähr fünfzehn Prozent geschrumpft.
Er sollte das gestohlene Geld zurückgeben. Und doch … und doch, und doch was? Er musste an das Häuschen denken, das kleine Häuschen seines Vaters, die goldenen Jahre des Ruhestands, die er damit seinen Eltern hatte ermöglichen wollen, das, was er sich mehr als alles andere auf der Welt für sie wünschte und das er mit gestohlenem Geld gekauft hätte. Und das war genau das Problem. Er würde seinem Vater nie erzählen können, was er getan hatte; was bedeute, dass ihm das, was er getan hatte, immer als falsch erscheinen würde. Es wäre eine Lüge. Und es würde alles vergiften. Er konnte das nicht tun. Ja, er sollte das Geld ganz unbedingt zurückgeben. Aber er hatte das Gefühl, das erst dann tun zu können, wenn er jemandem davon erzählt hatte. Es handelte sich dabei wohl um ein Überbleibsel seiner katholischen Erziehung. Er musste beichten. Er brauchte die Absolution. Die Last dieses Geheimnisses war einfach zu groß, als dass er sie allein hätte schultern können. Außerdem gab es da noch einen unruhig flimmernden Gedanken, den er sich nur ungern eingestand, aber der ihm trotz allem einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Wenn er jemandem die
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