Kapital: Roman (German Edition)
Kompliment.
Wenn es erst einmal passiert, dann passiert es sehr schnell, und Matya und Zbigniew war es passiert. Jetzt schauten sie sich nach einer gemeinsamen Wohnung um. Sie verbrachten zwei Abende die Woche und einen Nachmittag am Wochenende mit der Wohnungssuche. Auf diese Methode hatten sie sich geeinigt. Sie wollten sich so lange Zeit lassen, bis sie etwas fanden, das ihnen beiden zusagte, statt es auf die Schnelle hinter sich zu bringen, sich dabei vollkommen zu verausgaben und das Erstbeste zu nehmen, was sich ihnen bot.
Zbigniew hatte, als er feststellen musste, dass er in letzter Zeit immer weniger Aufträge bekam, ein- oder zweimal von Polen gesprochen, hatte erzählt, wie billig es dort sei, was für herrliche Gegenden es auf dem Land dort gebe und wie warmherzig und aufgeschlossen seine Familie sei. Matya hatte als Antwort darauf dann immer angefangen, den Ruhm der ungarischen Landschaft, Kultur und Küche zu preisen. Und dann gab es da noch die nicht unerhebliche Frage, ob sie Polnisch oder er Ungarisch lernen sollte. Für den Moment und auch in absehbarer Zukunft würden sie also in London bleiben. Das kam für Zbigniew ungefähr genauso unerwartet wie der Umstand, dass er Matya gefunden hatte. Dass dies nun der Ort war, an dem er leben würde, und nicht mehr nur ein Ort, aus dem er sozusagen auf der Durchreise so viel Kapital wie möglich schlagen wollte, war nicht Teil seines Plans gewesen. Matya hatte einen neuen Job als Dolmetscherin gefunden. Einer ihrer Arbeitgeber war der Vorstandsvorsitzende einer Baufirma, bei der sehr viele Ungarn angestellt waren. Sein bisheriger Dolmetscher hatte von einer anderen Firma ein besseres Angebot bekommen.Mittlerweile verbrachte sie ihre Arbeitszeit also damit, einen gelben Schutzhelm zu tragen, doppelt so viel zu verdienen wie bisher und mit der Aussicht, später befördert zu werden und/oder auf einen Bürojob versetzt zu werden. Ihre Erzählungen klangen so, als fänden die Leute dort sie ganz wunderbar und wollten sie unbedingt behalten. Zbigniew konnte das nur zu gut verstehen.
Sogar Piotr mochte Matya. Nein, das war nicht richtig ausgedrückt – natürlich mochte er Matya (und fand sie sehr attraktiv): Wer täte das nicht? Bemerkenswert war jedoch, dass sogar Piotr bereit war, seine Freude darüber zu zeigen, dass Zbigniew und Matya ein Paar waren. Sie waren alle zusammen zum Mittagessen ausgegangen, in einen polnischen Pub in Balham, und das Treffen war ein großer Erfolg gewesen. Piotr hatte seine eigene Freundin mitgebracht, ein Mädchen aus Krakau, das als Hilfslehrerin in einer Grundschule arbeitete. Der Tag hatte sich so angefühlt wie eine Rückkehr in alte Zeiten, obwohl das nicht ganz stimmte, denn die alten Zeiten waren eigentlich ganz anders gewesen: Sie hatten sich nie Zeit dafür genommen, zu faulenzen und mit ihren Freundinnen abzuhängen. Piotrs Meinung über Zbigniew schien nicht mehr ganz so düster zu sein, und sie konnten nun Zeit miteinander verbringen, ohne andauernd das Gefühl zu haben, als wären sie mitten in einer – wenn auch unausgesprochenen – Auseinandersetzung.
Ein Mann mit einem Notizbrett betrat Petunias Garten. Es war deutlich zu sehen, dass er über die anderen vier Männer die Aufsicht führte: Er stand da, hielt das Notizbrett vor sich und verglich es mit der Arbeit, die gerade im Gange war. Ganz offensichtlich war irgendetwas nicht in Ordnung. Zwei der Männer richteten sich auf und kamen zu ihm herüber, und die drei begannen zu diskutieren. Alle Männer nickten und zeigten auf alles Mögliche, während sie darüber sprachen, was sie mit dem Garten anfangen würden, sobald sie erst einmal alle Pflanzen losgeworden waren, die Petunia Howe so geliebt hatte. Zbigniew wandte sich vom Fenster ab und machte sich an die Arbeit.
102
Im allgemeinen Trubel des Familienlebens können viele Dinge unbeachtet bleiben. Shahid und Usman hatten miteinander seit Monaten weder gesprochen noch sonstwie Umgang gepflegt – und es war niemandem in der Familie aufgefallen. Während der letzten beiden Monate war Usman zusammen mit ihrer Mutter in Lahore gewesen, hatte sich eine Pause vom Londoner Leben gegönnt, sich wieder mit dem Leben in Pakistan vertraut gemacht und wäre fast ein Ehearrangement mit der vierten Tochter eines Rechtsanwaltes eingegangen. Er war so nah dran gewesen, es tatsächlich zu tun, dass er sich entschlossen hatte, abzureisen, um das Ganze noch einmal in Ruhe überdenken zu können. Nun war er also zurück
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