Kapital: Roman (German Edition)
Junge hier wohnen, der zusammen mit seinem Vater nach London kam. Er war erst siebzehn und würde mit einem Gehalt von zwanzig Riesen in der Woche anfangen, mit der Option, nach Verlauf eines Jahres entweder mehr Geld zu bekommen oder den Vertrag zu kündigen. Mickey war selbst durchaus nicht arm. Er hatte schon als Kind die Absicht gehabt, viel Geld zu verdienen, und fand es absolut in Ordnung, wenn jemand riesige Haufen Geld scheffelte, ja, er fand es sogar bewundernswert. Es war ein hohes und nobles Ziel. Aber selbst Mickey wurde es manchmal schlecht, wenn er darüber nachdachte, mit wie viel Geld man im Fußball heutzutage so um sich warf.
Warum bloß hatte der Kleine es vorgezogen, hier zu wohnen und nicht irgendwo in der Vorstadt, wo es nett und grün war? Wer konnte das schon wissen? Es war ohnehin der Vater und nicht der Junge gewesen, der diese Entscheidung getroffen hatte. Mickey vermutete, der Vater sei vielleicht in Panik geraten, als er festgestellt hatte, dass in den Vorstädten überwiegend Weiße lebten, und dass er daher lieber an einem Ort wohnen wollte, wo wenigstens die theoretische Möglichkeit bestand, dass ihm ab und zu ein schwarzes Gesicht begegnete. Sie würden es hier nicht lange aushalten. Das taten sie nie. Klinsmann hatte in London gewohnt und Lineker auch, und ein oder zwei andere europäische Spieler taten es immer noch, aber die meisten zogen dann doch so bald wiemöglich raus nach Surrey, in das Beverly Hills Englands, wo die Rockstars ihre Häuser hatten. Mickey selbst wohnte in Richmond, nicht weit von Pete Townshend und Mick Jagger.
Böden geschrubbt – abgehakt. Fenster so sauber, dass man sie nicht mehr sehen konnte – abgehakt. TV-Anlage mit mehr Knöpfen und Lichtern als das Cockpit eines Spaceshuttles – abgehakt. Nachprüfen, ob der Fernseher auch tatsächlich funktioniert – abgehakt. W-Lan in Betrieb – abgehakt. Teppiche sauber, Betten gemacht, Fensterbänke abgestaubt – abgehakt, abgehakt, abgehakt. Der Kühlschrank war gefüllt, auch wenn er keine Ahnung hatte, ob Afrikaner das Zeug auch tatsächlich aßen, mit dem er vollgestopft war. Es war ihm auch egal. Das war das Problem der Haushälterin, die der Club eingestellt hatte. Der Vater sprach ein wenig Englisch, aber der Sohn überhaupt nicht, der konnte nur Französisch. Also hatte der Club einen Dolmetscher engagiert, eine Haushälterin, die Französisch sprach, und einen Englischlehrer. Aber das gehörte alles nicht in Mickeys Aufgabenbereich und bereitete ihm deshalb kein Kopfzerbrechen.
Es schien alles in Ordnung zu sein. Mickey hatte während der gesamten Inspektion sein Pokerface aufgesetzt. Aber als er fertig war, hatte er das Bedürfnis, seinen Gefühlen ein wenig freien Lauf zu lassen. Er wandte sich an die Haushälterin.
»Sie wissen Bescheid, was die Diskretion angeht?«
Sie nickte, sagte aber nichts.
»Nein, ich meine, begreifen Sie auch wirklich, was das bedeutet?«
Sie nickte wieder. Er hatte eigentlich vorgehabt, ihr den üblichen Anschiss zu verpassen, mit dem er die Leute in puncto Diskretion normalerweise einschüchterte. Dass sie auf keinen Fall etwas zu irgendjemandem sagen durften, niemals, bis ans Ende ihres Lebens. Aber die Haushälterin wirkte so ausdruckslos und gleichgültig – wenn auch nicht in einer inkompetenten »Ist-mir-doch-egal«-Art und Weise, sondern so, als hätte sich ihr wahres Ich irgendwo ganz tief vergraben –, dass er den Impuls verlor,die Sache durchzuziehen. Er kam sich ein bisschen so vor, als wäre ihm ganz unvermittelt eine Erektion abhandengekommen. Dumm gelaufen. Mickey genoss den Diskretions-Anschiss. Seine Arbeit bekam dadurch etwas Wichtiges und Dramatisches. Und es war ja auch wirklich so, dass im Premier-League-Fußball selbst die banalsten Aspekte etwas Glamouröses hatten. Musste man zum Beispiel nachprüfen, ob auch genug Klopapier da war, dann wurde das sofort eine bedeutende und interessante Tätigkeit, wenn man es für einen Spieler der Premier League tat. Mickey wusste eine Menge Dinge, die andere Leute wahnsinnig gern erfahren hätten. Die meisten davon waren eine Variation des Themas »Und wie ist X denn wirklich so?« – als gäbe es eine spezielle Wissenskategorie mit dem Titel »Wirkliches Sosein« – als wäre das tatsächlich die Frage aller Fragen.
»Es scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte er zu der Putzfrau. Sie nickte wieder. Ganz offensichtlich war heute der Tag, an dem ihm alle zunicken wollten. Kein Problem, er konnte
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