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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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überdreht und erschöpft zugleich. Roger hätte das Fernsehen erst als allerletzten Ausweg benutzen sollen. Nach nur zwei Stunden war er vollkommen ausgelaugt (und voller Panik, Wut und Selbstmitleid); und auch Joshua und Conrad waren müde und gelangweilt. Sie hüpften auf dem alten Sofa auf und ab, und jeder von ihnen versuchte verzweifelt, seinen Vater dazu zu überreden, mit ihm ganz allein irgendein anstrengendes Spiel zu spielen. Bei zwei Söhnen und nur einem Vater war das logischerweise nicht möglich, weshalb die Sache für die Kinder erst recht unverzichtbar wurde. Schließlich übertrumpfte Joshua seinen älteren Bruder, indem er sich vom Sofatisch katapultierte, als Roger gerade abgelenkt war, und sich dabei am Kopf stieß. Conrad rächte sich, indem er sein größtes neues Transformers-Spielzeug – Optimus Prime, seine Lieblingsfigur – gegen das Tischbein knallte, undzwar so fest, dass es nicht nur auseinanderfiel (er wusste, dass die Figuren in Einzelteile zerlegt werden konnten, und das war der Effekt, den er erzielen wollte), sondern tatsächlich zerbrach. Das führte dazu, dass nun auch er einen Tobsuchtsanfall bekam und aus echtem, untröstlichem Kummer fürchterlich weinte.
    Während seine beiden Söhne schrien und heulten, fühlte sich Roger so müde, wie er sich noch nie gefühlt hatte. Jedenfalls konnte er sich nicht erinnern, dass es jemals so schlimm gewesen war. Er weinte fast vor Erschöpfung, seine Augen waren verklebt, er war wütend und fühlte sich gleichzeitig unendlich schwer, so als könnte er, wenn er sich erst einmal aufs Bett legte, einen ganzen Monat lang schlafen. Er schaute auf die Uhr. Während er das tat, formulierte er in seinem Kopf den Wunsch, es möge schon recht spät am Morgen sein; halb zwölf vielleicht, bereits in Reichweite von Joshuas Mittagsschlaf, der, wie er wusste, irgendwann um diese Uhrzeit stattfand. Dann konnte er Conrad wieder vor den Fernseher setzen oder ihn in sein Zimmer einschließen oder so was in der Art, und selbst für ein paar Minuten kostbaren Schlafs wieder ins Bett gehen. Schlaf! Noch nie zuvor hatte er ihn wirklich zu schätzen gewusst. Er hatte ihn für selbstverständlich gehalten. Das war nicht richtig. Man sollte Schlaf nicht für selbstverständlich halten. Schlaf war nämlich das absolut Schönste auf der ganzen Welt. Mit Abstand. Viel, viel besser als Sex. Kein Vergleich. Und er könnte schon bald welchen genießen, bald, ach, so bald, wenn nur die Uhr ihm die richtige Zeit mitteilte, wie zum Beispiel elf, was doch wahrscheinlich war, oder halb zwölf, was durchaus möglich war, oder vielleicht sogar zwölf, oder, wer weiß? Die Zeit konnte manchmal wie im Flug vergehen – vielleicht sogar Viertel nach zwölf ?
    Es war zehn Uhr. Roger spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Sein Blick fiel auf die Karte, die auf dem Kaminsims lag, die Karte, auf der stand, dass jemand wollte, was er hatte. Nun, was er in diesem Augenblick wollte, mehr als alles andere auf der Welt, war eine Zyankalikapsel.
    Auf diese Weise entstand ein Muster. Es verging ein gewisser Zeitraum, und Roger war sich bewusst, dass er verging, während er zum Beispiel auf der Erde lag und so tat, als sei er ein böser Power Ranger, oder während er eine Brio-Eisenbahn mit Puff-Puff-Puff-Geräuschen über die Schienen schob, oder sehr langsam in Gestalt eines vor Angst zitternden pflanzenfressenden Dinosauriers vor dem anrückenden Roboraptor weglief. Er tat das alles eine Weile und erwartete dann, dass die Zeit ihren Teil der Abmachung eingehalten hatte und irgendwie vorbeigegangen war. War es also etwa das letzte Mal, als er auf die Uhr geschaut hatte, zwanzig nach elf gewesen, dann rechnete er nun damit, dass es bedeutend später sein würde. Stattdessen war es gerade mal fünf vor halb zwölf.
    Das Mittagessen war recht abenteuerlich, denn die Zubereitung der Mahlzeit gestaltete sich als echte Herausforderung. Conrad konnte sich nicht daran erinnern, wie er sein Ei mochte, also musste Roger erst eins braten, es dann wegwerfen, dann ein zweites pochieren und es wieder wegwerfen, bis sie schließlich feststellten, dass Conrad nur Rührei aß. Die Verwirrung war entstanden, weil Conrad gesagt hatte, er hätte es am liebsten, wenn sein Ei »eiig« schmeckte. Trotzdem stellte sich heraus, dass die Sache mit Joshua noch wesentlich schwieriger war als mit Conrad. Er lehnte wütend alles ab, was Roger ihm vorschlug, bis er sich schließlich dazu herabließ, eine

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