Kapital: Roman (German Edition)
einzigen Sekunde, und weg war er. Es war Täuschung, Ausweichmanöver und ein plötzlicher Sprintstart in ein und derselben Bewegung.
Es hatte an diesem Morgen geregnet. Der Rasen war nicht ganz trocken, was wahrscheinlich bei dem, was jetzt passierte, eine Rolle spielte. Der Linksverteidiger hatte keine Ahnung, wer Freddy war, es war die neunzigste Minute, und seine Konzentration hatte schon ziemlich nachgelassen. Das Ergebnis von Freddys Trick war, dass der Verteidiger auf die nach links gerichtete Bewegung hereinfiel. Als er daraufhin versuchte, die Richtung zu wechseln und ihn zu verfolgen, verlor er den Halt und fiel aufs Gesäß, aber ganz langsam, während er noch versuchte, sein Gleichgewicht zurückzugewinnen, und mit den Armen wild um sich schlug. Als er dann tatsächlich auf seinem Hintern landete, war Freddy schon zehn Meter entfernt. Einer der gegnerischen Innenverteidigerlief auf ihn zu, um ihn auszuschalten. Freddy flankte in Richtung des rechten Torpfostens, der Stürmer stieg höher als der Verteidiger und köpfte den Ball gegen die Latte. Es klang, als würde man eine Axt in einem Stück Holz versenken. Dieses Geräusch sollte Freddy nie wieder vergessen. Der Torwart fing den abprallenden Ball und schoss ihn weit ins Spielfeld hinaus, und dann pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab.
Um Mitternacht desselben Tages gehörte ein Video mit dem Titel »Freddys erste Ballberührung« zu den zehn meistgesehenen Clips auf YouTube.
30
Es heißt, dass stressige oder dramatische oder ungewöhnliche Umstände dafür sorgen, dass die Zeit wie im Flug vergeht. Roger konnte das leider nicht bestätigen. Die achtundvierzig Stunden während der Weihnachtsfeiertage waren die absolut anstrengendste Zeit seines Lebens. Nachdem sich die Möbelpacker mit dem Sofa mühsam an den richtigen Platz gekämpft hatten und Roger den Lieferschein unterschrieben hatte, blieb das Möbelstück den ganzen Tag vorwurfsvoll in seiner Verpackung aus Pappe in der ihm zugewiesenen Ecke im größeren Wohnzimmer stehen, denn Roger hatte sich nicht dazu durchringen können, es auszupacken. Dann machte er den Fehler, den Fernseher einzuschalten und den Jungs zu erlauben, sich mit ihren neuen Geschenken davorzusetzen. Beide hatten eine geradezu spektakuläre Ausbeute gemacht. Conrad hatte zusätzlich zu seinem Roboter noch mehrere riesige Schachteln mit Transformers, Bionicles, Lego, Action Men und zwei Lichtschwerter bekommen. Joshua verstand Weihnachten noch nicht, weshalb der Anblick seines riesigen neuen Brio-Eisenbahnsets keinen großen Eindruck auf ihn machte; es schien fast so, als würde er nicht ganz begreifen, dass das jetzt alles ihm gehörte. Arabella hatte ihm darüber hinaus noch einen gigantischen Teddybär in leuchtendem Orange gekauft. Er war fast anderthalb Meter groß – zu groß, um ihn hinter sich herzuziehen, aber vielleicht die richtige Größe, um darauf zu sitzen. Joshua betrachtete den Teddybär ungefähr dreißig Sekunden lang sehr gründlich und mit nachdenklichem Gesichtsausdruck und brach dann in Tränen aus. Er hörte so lange nicht auf zu weinen, bis der Bär aus dem Zimmer entfernt und versteckt worden war und Roger ihm versprochen hatte, dass er ihn nie, nie, nie wieder sehen würde, in seinem ganzen Leben nicht.
»Undwardniewiedergesehen«, sagte Josh, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. Das war einer seiner Lieblingssätze aus einer Geschichte, die Pilar ihm vorgelesen hatte.
»Und ward nie wieder gesehen«, stimmte Roger ihm zu. Zu diesem Zeitpunkt saßen sie vor dem Fernseher und sahen sich eine Kindersendung an, in der alle Moderatoren laut schrien. Roger hatte vor kurzem etwas von einem Skandal über Moderatoren aus dem Kinderfernsehen gehört, die mit Kokain erwischt worden waren, aber er hätte es noch viel schockierender gefunden, wenn sie so früh am Morgen schon so munter waren, ohne Kokain zu nehmen. Und wenn man mal darüber nachdachte, dann war Kokain ja vielleicht sogar der Geheimtipp zu einer ganz neuen Form von Kindererziehung …
Aber das Einschalten des Fernsehers war ein schlimmer Fehler gewesen. Er hatte diese Waffe viel zu früh eingesetzt. Roger wusste nicht, dass das Fernsehen den Kindern irgendwann langweilig wurde, und das galt besonders dann, wenn man es ihnen schon so früh am Morgen erlaubte. Es machte sie fiebrig und teilnahmslos, als hätten sie zu viel Zucker gegessen. Sie wurden aufsässig und bockig, bekamen bei der geringsten Gelegenheit Wutanfälle und waren
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