Kapital: Roman (German Edition)
hatte eine Küche und zwei Gemeinschaftsräume. In einem dieser beiden Räume stand ein riesiger alter Kathodenstrahl-Fernseher, der andere war mit ein paar ramponierten Sofas zugestellt. Der Garten war zwar ungepflegt, aber durchaus benutzbar. Man konnte draußen sitzen, doch das tat kaum jemand. Es gab acht Schlafzimmer, in denen acht Menschen wohnten. Einer davon war der Hausverwalter, der sein Gehalt von der Hilfsorganisation bezog. Als normales Wohnhaus wäre das Gebäude mehr als eine Million Pfund wert gewesen. Stattdessen hatte man jedoch ein Wohnheim für staatenlose abgelehnte Asylbewerber daraus gemacht. Die anderen Bewohner der Gegend waren deswegen ziemlich erbost, denn sie glaubten, dass dadurch die Immobilienpreise nach unten gedrückt wurden.
Quentina wohnte nun schon fast zwei Jahre dort, und sie kannte sich ziemlich gut mit der Art von Menschen aus, die bei dem Verein Hilfe suchten. Sie alle waren von ihren Erfahrungen gezeichnet, manche von ihnen schwer, und ein paar brachten kaum noch etwas zustande. Einige waren voller Zorn und explodierten bei der geringsten Gelegenheit. Das waren auch diejenigen, die am schnellsten in Schwierigkeiten gerieten. Vor einer Weile hatte eine Sudanesin im Haus gewohnt, die sich andauernd prügelte – richtig prügelte, wie ein Mann –, weil sie sich ununterbrochen einbildete, man wolle sie beleidigen. Sie war wegen Körperverletzung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden, nachdem sie eine Frau geschlagen hatte, mit der zusammen sieunter dem Vordach einer Metzgerei vor dem Regen Schutz gesucht hatte und von der sie, wie sie glaubte, vorsätzlich angerempelt worden war. Normalerweise hätte man sie nach Beendigung der Haftstrafe abgeschoben. Die Europäische Menschenrechtskonvention untersagte das jedoch, denn sie wäre im Sudan ihres Lebens nicht sicher gewesen. Also hatte man sie nach ihrem Gefängnisaufenthalt in ein anderes Haus der Zuflucht verfrachtet; diesmal in Nord-London. Quentina zweifelte daran, dass die Geschichte dieser Sudanesin ein glückliches Ende nehmen würde. Andere »Kunden« ließen sich von ihrer misslichen Lage erdrücken und konnten an nichts anderes mehr denken. Dieser Zustand brachte zwei ganz gegensätzliche Symptome mit sich: Mal schwiegen die Leute hartnäckig, dann sie schütteten einem geradezu sintflutartig ihr Herz aus, sobald man freundlich zu ihnen war und auch nur das geringste Interesse und Verständnis zeigte. Die Kurdin Ragah gehörte in diese Kategorie. Bei ihr gab es kein Dazwischen: Entweder sie brütete darüber nach, was sie alles verloren hatte, oder sie redete ohne Punkt und Komma. Und während sie redete, regte sie sich mehr und mehr auf, wodurch ihr Englisch immer unverständlicher wurde. Ab und zu verfiel sie auch einfach ins Kurdische, ohne es zu merken. Ragah hatte ihre Familie verloren, so viel verstand Quentina, aber das war auch alles, was sie wusste, denn darüber hinaus hatte sie ihr einfach nicht mehr folgen können. Und jetzt noch nachzufragen wäre ihr einfach zu peinlich gewesen.
Warum jemand schwieg, ließ sich nur schwer sagen, weil es so viele Ursachen gab. Einige der Flüchtlinge hingen mit ihren Gedanken noch in den Ländern fest, aus denen sie gekommen waren; sie hatten mit ihrem eigenen Leben nicht mehr Schritt halten können. Andere litten unter Kulturschock und begriffen weder die Stadt London noch ihre Bewohner; sie waren einfach nur fassungslos. Das war nicht so problematisch, denn nach einer gewissen Zeit gab sich das von alleine. Wieder andere redeten nicht, weil sie deprimiert waren. In dem Südlondoner Flüchtlingshaushatte es in letzter Zeit nur einen einzigen Selbstmord gegeben, eine Afghanin, die sich im Badezimmer erhängt hatte. Das war eine Woche nach Quentinas Ankunft gewesen. Ein Selbstmord in zwei Jahren war keine so besonders schlechte Quote. Andere Flüchtlinge waren von der Angst besessen, einen katastrophalen Fehler gemacht zu haben. Sie glaubten, die Entscheidung, nach England zu kommen, sei ein nicht wieder gut zu machender Irrtum gewesen, ein Irrtum, von dem sie sich niemals erholen würden. Ihr Leben würde nie wieder ihnen gehören, sondern nur noch die Geschichte dieses ungeheuren Fehlers sein, den sie begangen hatten.
Quentina passte in keine dieser Kategorien. Der entscheidende Unterschied war vielleicht, dass sie beschlossen hatte, ohne Wenn und Aber an diesem neuen Leben in London teilzuhaben. Sie wollte versuchen, das Beste daraus zu machen. Trotzdem hatte
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