Karambolage
Sie? Sieht nun doch so aus, als ob wir es mit einem Mord zu tun hätten, nicht wahr? Wir werden draußen gleich unsere weitere Marschroute besprechen.«
Seine Worte waren so etwas wie ein allgemeines Zeichen zum Aufbruch. Eduard Seidls Leiche hatte man bereits hinuntertransportiert, mittlerweile war auch der Krankenwagen für seinen Vater eingetroffen. »Weißt du, Leopold«, meinte Juricek, ehe er sich von seinem Freund verabschiedete, »meine Eltern hatten auch einen Gasherd. Er war ziemlich praktisch, weil die Flamme heiß war, sobald man sie aufdrehte. Meine Frau und ich haben jetzt einen E-Herd. Tolles Ding. Aber ich weiß noch genau, wie ich das erste Mal geflucht habe, als ich mir ein Spiegelei braten wollte und es ewig gedauert hat, bis es zu stocken anfing. Mittlerweile habe ich beinahe vergessen, dass es noch Gasherde gibt – so alte, wie ihn meine Eltern hatten, auch noch dazu. Heute bin ich wieder daran erinnert worden, und mir ist gar nicht gut dabei.«
Statt einer Antwort summte Leopold noch einmal die ersten Takte der ›Moldau‹. Er summte sie mit jener leisen Wehmut, die plötzlich, ohne sich anzukündigen, tief aus der Seele kommt.
10
Was darf man schon vom Glück verlangen? Den Menschen, dem seit einigen Tagen sein Herz gehört, endlich in Händen halten zu dürfen? Sein Vertrauen zu erringen, seine innersten Gedanken mit ihm zu teilen? Jene Seelenverwandtschaft zu entdecken, die man ersehnt, geahnt hat? Solchen Gedanken hing Korber nach, unbestimmten Hoffnungen, anstatt bloß einen schönen Abend genießen zu wollen. Es musste einfach klappen mit Maria Hinterleitner, musste, musste, musste. Seine Gefühle ließen ihn nicht los, und der Druck, der auf seiner Seele lastete, war schwer wie Blei.
Zunächst lief alles nach Plan: Nach kurzem Überlegen waren er und Maria in die Wiener Innenstadt gefahren. Korber führte Maria zuerst durch einige der romantischen alten Gässchen, die, vom Donaukanal wegführend, zum ersten mittelalterlichen Stadtkern gehörten. Er vergaß dabei nicht zu erwähnen, dass die Grundmauern des Stephansdoms, des heutigen Herzstücks Wiens, vorerst noch außerhalb der Stadtmauern gelegen waren.
»Das heißt, Stadtmauer gab es damals eigentlich noch keine«, sagte Korber. »Die wurde erst nach 1200 aus einem Teil des Lösegeldes errichtet, das der Babenbergerherzog [21] Leopold V. für die Freilassung des englischen Königs Richard Löwenherz erhalten hat. Gleichzeitig ist Wien auf etwa die Größe des heutigen ersten Bezirkes gewachsen.«
»Wurde Richard nicht in Dürnstein, in der Wachau, gefangen gehalten? Und gab es da nicht auch den Sänger Blondel, der ihn gefunden hat?«, fragte Maria.
»Dürnstein stimmt, aber die Geschichte vom getreuen Blondel ist wohl doch nur ein Mythos, so wie der vom ›Lieben Augustin‹, dem man übrigens da vorne ein Denkmal gesetzt hat.«
Sie gingen am ›Griechenbeisl‹ vorbei, einem alten, bekannten Stadtwirtshaus, wo das berühmte Lied vom ›Lieben Augustin‹ entstanden sein soll. Durch ein vergittertes Loch im Boden konnte man die Figur des Mannes erkennen, der wie kein anderer Frohsinn und Lebensfreude der Wiener Bevölkerung verkörperte und gleichzeitig ihr zwiespältiges, ja schlampiges Verhältnis zum Tod symbolisierte. [22]
Ein frischer Wind kam auf. Ein paar Minuten schlenderten Korber und Maria noch dahin, dann schlug Korber vor, es sich in einem der stimmungsvollen Stadtkeller gemütlich zu machen. Als sie beim Wein und einer Platte mit zahlreichen kalten Köstlichkeiten saßen, wurde das Gespräch schnell vertraulicher.
»Weißt du übrigens, dass das nicht mein erster längerer Wien-Aufenthalt ist?«, fragte Maria, während sie sich am Käse gütlich tat. »Als Kind kam ich mit meiner Klasse zu den obligaten Wien-Wochen her, ja, und ein Jahr habe ich sogar hier studiert.«
»Du hast in Wien studiert?«, reagierte Korber überrascht.
»Nur ein Jahr, wie gesagt. Und weißt du was? Lach mich jetzt bitte nicht aus: Medizin. Es war ein Debakel. Ich kam erst während des Studiums drauf, dass ich gar kein Blut sehen kann. Aber ich hatte es mir damals in den Kopf gesetzt, und ich wollte weg von zu Hause, weit weg. Erst später habe ich mir eingestanden, dass mir die Sprachen mehr liegen. Ich bin dann nach Graz gegangen. Das liegt schließlich auch noch in einiger Entfernung von dem kleinen Bergdorf in der Nähe von Fischbach, in dem ich aufgewachsen bin, südlich von Roseggers Waldheimat. Wann bist du eigentlich
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