Karaoke
wurde ein Auto umgekippt. Im Gedränge wurde mir die Nase blutig geschlagen und ein Ärmel zerrissen. Die Band Russländer verschwand spurlos aus dem Club »Medik« und aus meinem Leben.
Am nächsten Tag, als ich wie immer pünktlich zum Gitarrenunterricht erschien und den anderen von dem Konzert erzählte, wollte mir keiner glauben. Mir mangelte es auch an Beweisen, denn von dem Konzert fehlte jede Spur. Nur noch ein paar leere Flaschen, die in den Gängen des Clubs lagen, und ein Dutzend zerbrochener Sessel im Saal erinnerten an die Orgie am Abend zuvor. Mir blieb sie unvergesslich. Ich wurde süchtig nach solchem Krach und wollte ihn sofort auf meiner Sechzehn-Rubel-Gitarre imitieren. Ich war dem russischen Rock 'n' Roll verfallen.
Wenig später lernte ich einen Jungen kennen, der mit seinen Eltern von Leningrad nach Moskau gezogen war. Dort, so erzählte er mir, gäbe es viele Rockbands, und sie seien absolute Spitze. Er gab mir seine Kassetten zum Überspielen. Ich machte mich mit der Leningrader Rockszene bekannt. Die Muntermachsendung Morgenpost wurde irgendwann in Morgenstern umbenannt, kurz bevor sie endgültig vom Bildschirm verschwand. Von der Band Russländer, die wie fast alle russischen Bands aus Leningrad kam, habe ich allerdings nie wieder etwas gehört. Bis 1983 die Nachricht vom mysteriösen Verschwinden des Sängers Georg Ardanowskij die Szene elektrisierte. Er war angeblich nur mal eben aus seinem Haus in Leningrad gegangen, um Zigaretten zu holen — und nicht wieder zurückgekehrt. Bis heute gilt er als vermisst. Eine Bekannte erzählte mir, Georg sei in Wirklichkeit nichts passiert, er wäre nach Afrika ausgewandert.
Romantiker 306
Als ich im Sommer 1990 in die DDR fuhr, hatte ich natürlich nicht vorgehabt, in Berlin zu bleiben. Ich wollte nur kurz die unbekannte Welt kennen lernen, möglichst preiswert und schnell, damit ich dann in Moskau mit den anderen Genossen, die bereits das Ausland besucht hatten und alles über das dortige Leben wussten, mitreden konnte. Deswegen hatte ich auch mein ganzes Hab und Gut zu Hause gelassen, unter anderem eine umfangreiche Sammlung russischer Rockmusik. Fünfhundert Stunden davon von mehr als hundert sowjetischen Bands besaß ich zu diesem Zeitpunkt auf Kassetten. Manche Konzerte hatte ich sogar eigenhändig aufgenommen mithilfe meines Kassettenrekorders Romantiker 306.
Dieses Gerät war ein wahres Wunder sowjetischer Technik: unglaublich stabil und quasi unverwundbar. Es wurde in Kasan aus technischen Abfällen der Raketenindustrie gebaut. Mehrmals fiel mir das Gerät ins Wasser und einmal sogar ins Feuer, ein anderes Mal flog es aus dem achten Stockwerk und zerdellte dabei das Dach eines im Hof geparkten Wolgas. Die guten technischen Qualitäten des Kassettenrekorders wurden dadurch jedoch in keiner Weise gemindert. Im Gegenteil, er klang nach jedem Unfall besser als vorher. Außerdem konnte man den Romantiker 306 auch noch für alles Mögliche andere benutzen, zum Beispiel um Bierflaschen zu öffnen und Nägel einzuschlagen — theoretisch. Oft nahm ich ihn deswegen als Universalgerät mit in den Wald, wenn wir mit Freunden eine Party veranstalteten, und auch auf längeren Reisen hat er mir als eine Art Schweizer Messer gute Dienste erwiesen. Aber nach Deutschland nahm ich ihn nicht mit, weil mein Freund Mischa behauptete, die sowjetische Technik sei extra so gebaut, dass sie nur auf unserem Territorium funktioniere und im Ausland sofort kaputtginge. Mischa besaß ebenfalls viele wertvolle Gegenstände, unter anderem den Romantiker 312 Stereo — der letzte Schrei der Raketenindustrie. Er war auch viel teurer als meiner. Doch wir wollten ja eigentlich
nur schnell hin und wieder zurück, deswegen beschlossen wir, so wenig wie möglich mitzunehmen.
Mischa rief seine Tante an, die seit 1979 in Westberlin wohnte. Sie war bereit, uns für ein paar Tage Unterkunft zu geben. Am fünften Juli ging unsere Reise los. Noch im Zug fingen wir an zu trinken. Es fand sich immer wieder ein wichtiger Grund dafür: Zuerst hatte der Nachbar, der mit uns das Abteil teilte, Geburtstag und lud den halben Waggon ein. Während der Fete lernte er die Frau seines Lebens aus dem Abteil nebenan kennen, und so ging dann die Geburtstagsparty langsam in eine Verlobungsfeier über. Dazu mussten wir die Plätze mit der Frau tauschen, doch schon am nächsten Tag bereute der Nachbar seine Entscheidung bitter. Die beiden zerstritten sich, und sie zog in ihr Abteil zurück,
Weitere Kostenlose Bücher