Karaoke
laufen. Mischas Tante wohnte praktisch um die Ecke, und die Tür stand tatsächlich offen.
»Ich bin von der Menschlichkeit dieser Stadt vollkommen überwältigt«, bemerkte Mischa und ging aufs Klo.
Die Tante hatte uns ein Bett und eine Decke zur Verfügung gestellt. Im Zimmer stand ein Fernseher. Wir waren wie berauscht von den Ereignissen des Tages und konnten nicht einschlafen. Mischa schaltete den Fernseher an. Eine schöne blonde Frau lächelte viel versprechend und erzählte den weiteren Programmablauf so freundlich, dass sogar wir alles verstanden: Jetzt kam ein Film. Wenn die Gondeln Trauer tragen, hieß er. Auf dem Bildschirm jagte Donald Sutherland mit einem Messer bewaffnet einen kleinen mysteriösen Zwerg durch die Kanäle von Venedig. Der Zwerg ließ sich jedoch nicht fangen. Jedes Mal, wenn Sutherland ihm zu nahe kam, löste er sich in Luft auf. Er hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Wilmersdorfer Kneipenwirt, den wir gerade kennen gelernt hatten. Daraufhin entwickelte Mischa eine neue paranoide Theorie: Der Wirt sei in Wirklichkeit Schauspieler. Deswegen wollte er uns auf den Fernseher aufmerksam machen. Als der Film zu Ende war, schliefen wir todmüde ein.
Als wir am nächsten Morgen die Wohnung verließen, erkannten wir die Stadt nicht mehr wieder. All die lustigen betrunkenen Autofahrer waren wie vom Erdboden verschwunden. Auch von der gestrigen Gastfreundlichkeit war keine Spur mehr übrig geblieben. Keiner wollte uns etwas umsonst geben. Die Menschen auf der Straße guckten uns misstrauisch an, und alle Kneipen waren zu.
Abends, als Mischas Tante von der Arbeit nach Hause kam, berichteten wir ihr von dem merkwürdigen Verhalten der Berliner. Wir wollten wissen, ob die Veränderung etwas mit uns zu tun hatte. Die Tante lachte uns aus. »Gott, seid ihr schwer von Begriff«, meinte sie. »Gestern hat die deutsche Fußballmannschaft gegen Argentinien eins zu null gewonnen! Maradona war schon wieder gedopt. Nach einem langweiligen Spiel wurde Deutschland Weltmeister, und die Berliner spielten deswegen die ganze Nacht verrückt. Nichts bewegt hier die Leute so stark wie Fußball«, erklärte die Tante. Unsere Enttäuschung war groß, doch trotzdem sind wir in Berlin geblieben, weil es das Schicksal eben so wollte.
Ich schrieb meinen Eltern und bat sie, mir meine Sachen zu schicken, die ich in Moskau zurückgelassen hatte. Als Erstes natürlich die Musikkassetten mit den fünfhundert Stunden russischer Rockmusik. Meinen Kassettenrekorder Romantiker 306 wollte ich natürlich auch hier haben. Mischas reichlich esoterische Behauptung, die sowjetische Technik funktioniere nur auf sowjetischem Territorium, erwies sich dann leider als pure Wahrheit: Kaum hatte das Gerät die Grenzen seines Produktionslandes hinter sich gelassen, ging es kaputt. Ich machte mir jedoch nichts daraus und kaufte für 69,99 DM einen neuen Kassettenrekorder der Marke Grundig bei Karstadt am Hermannplatz. Der Grundig funktionierte einwandfrei und sah auch ganz gut aus, kam aber mit meinen sowjetischen Kassetten nicht zurecht: Gelegentlich zerkaute er sie. Wir brauchten nicht nur neue Technik, wir brauchten auch neue Musik.
Von nun an ging ich jeden Abend in die Diskothek »Akba Lounge«, um die westliche Musik kennen zu lernen. Stattdessen lernte ich dort meine zukünftige Frau Olga kennen, die hinter dem Tresen arbeitete. Sie konnte tolle Cocktails mixen, die mich an meinen ersten Tag in Berlin und den Sieg der Deutschen bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 erinnerten.
Im Lauf der Zeit siedelten sich immer mehr Russen am Prenzlauer Berg an: Maler, Schriftsteller, Musiker, Tänzer. Es entstanden mehrere russische Rockbands. Mit einer, die sich Unterwasser nannte, waren Olga und ich bald eng befreundet, und wir besuchten sie gelegentlich in ihren Probenräumen in der Rykestraße. Eines Tages lernte ich dort bei einer Probe den neuen jungen Bassisten der Gruppe, Jurij Gurzhy, kennen.
Jurij war gerade mit seinen Eltern aus dem sonnigen Charkow gekommen und genauso wie ich ein leidenschaftlicher Musiksammler. Wir packten unsere Musikreserven zusammen — sie sahen beeindruckend aus.
»Lass uns damit eine Party veranstalten, um die russische Musik hier an den Mann zu bringen«, schlug Olga vor.
Die Gelegenheit dazu ließ nicht lange auf sich warten. Die frisch gebackenen Gastronomen vom Kaffee Burger luden uns ein. Jurij und ich legten auf, Olga übernahm die Kasse. Einen unserer ersten Abende widmeten wir dem »Tag der
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