Karaoke
Sowjetischen Armee«. Wir wussten nicht, was auf uns zukommen würde. Etwa drei Dutzend Russen, die Deutsche werden wollten, trafen auf ungefähr drei Dutzend Deutsche, die Russen werden wollten. Außerdem mischten sich auch einige Japaner und Gäste aus Afrika unter das Publikum. Die Veranstaltung fand am dreiundzwanzigsten Februar statt, dem Tag der sowjetischen Armee und der Flotte.
Wie bei den Russen üblich, fing der Abend relativ anständig an. Der Chor der sowjetischen Armee sang die berühmten Melodien über das glückliche Leben und Arbeiten in der Tundra, die das Publikum sofort zum Tanzen brachten. Nach Angaben des glücklichen Barkeepers flossen Wodka und andere starke Nationalgetränke in großen Mengen in die durstigen Kehlen des Publikums. Schnell verwandelte sich die anständige Veranstaltung in eine wilde Party, und die ersten Tische flogen durch das Kaffee.
Ein Gast aus Afrika wollte vom russischen DJ wissen, ob der Chor der sowjetischen Armee auch Reggae könne. Sofort wurde sein Wunsch erfüllt. »Die Russen können wohl alles«, murmelte der Mann deprimiert und kippte auf der Stelle um. Ein japanischer Gast sang zur großen Freude der Anwesenden »Besame mucho« auf Japanisch, und ein Schwede erzählte, dass er eigentlich immer schon nach Russland wollte. Aber, erklärte er uns, er sei als Schwede zur Welt gekommen und müsse deswegen auch in Schweden enden. Der in Berlin lebende russische Bildhauer Ivanov behauptete, er sei Flieger bei der sowjetischen Armee gewesen. Nun wollte er seine Flüge von damals vorführen. Der neunzig
Kilo schwere Bildhauer kippte mehrere Tische um, bevor er wieder auf dem Boden landete.
An dem Abend sah man, dass die Russen nicht nur gerne tanzen, sondern auch freudig im Chor singen. Man sah aber auch, dass die Deutschen, wenn sie ungefähr dasselbe intus haben wie die Russen, ebenfalls gerne im Chor singen, selbst wenn sie den Text nicht kennen. Die Russen singen laut, haben aber keine Ausdauer. Die Deutschen sind sehr viel leiser, dafür können sie aber länger.
Jurij erzählte, dass er auf der Männertoilette einen Gast traf, der kotzte und gleichzeitig telefonierte. »Warum seid ihr noch nicht hier?«, schrie er auf Russisch in sein Handy. »Nehmt sofort ein Taxi und kommt her! Hier geht es ab!«
Um zwei Uhr kam die zweite Welle, eine Mädchengruppe, angeführt von Swetlana, die sich gerade verlobt hatte und nun bei uns ihren Abschied vom Singledasein mit ihren besten Freundinnen feiern wollte. Außerdem kamen ein Journalist und ein Fotograf von der Weltwoche, ein verrückter russischer Chansonsänger, der bei uns singen wollte, eine alte Frau mit Korb, die jeden Abend ins Kaffee Burger geht, und ein Mädchen namens Marina, die laut ihrer eigenen Aussage eine ErotikSchriftstellerin aus Italien war. Der Platz war zu eng zum Tanzen, dafür aber ideal zum Knutschen. Alle küssten sich.
Um drei Uhr kam es zu einer allgemeinen Verbrüderung, erneut wurden viele Küsse verteilt, und etliche allein erziehende Mütter fanden einen neuen Lebenspartner. Eine mit uns befreundete allein stehende Blondine schleppte den verstockten Schweden ab. Das verlobte Mädchen Swetlana küsste sich mit ihren Freundinnen, danach aber auch mit zwei ukrainischen Jungs, die daneben saßen. Der Fotograf küsste den Journalisten, und am Tresen saßen drei Paare eng beieinander, die sich ebenfalls alle knutschten. Auch der DJ wurde mehrmals von fremden Mädchen abgeküsst und einmal sogar in die Hand gebissen. Die erotische Schriftstellerin aus Italien war sehr beeindruckt und erzählte uns, dass bei ihr in Verona solche Veranstaltungen undenkbar wären. In Verona würden nur zwanzig Emigranten aus Russland leben, was mit der fremdenfeindlichen italienischen Politik zusammenhinge.
»So viele lustige Russen haben wir in ganz Italien nicht«, sagte sie. Dann schaute sie sich um. »Und so viele lustige Deutsche sowieso nicht.«
Sie half uns beim Einlass und lernte dabei einen schönen Studenten aus Georgien kennen, der genau wie sie viele Sprachen konnte. Sie sprachen miteinander erst Hebräisch, dann Französisch und schließlich Italienisch. Anschließend küsste der Student die erotische Schriftstellerin aus Verona, und die beiden verschwanden gegen vier in der dunklen Berliner Nacht. Um fünf kamen sie allerdings wieder ins Kaffee Burger zurück.
Zu diesem Zeitpunkt lief unsere Veranstaltung völlig aus dem Ruder. Die ukrainischen Boys, die Freundinnen von Swetlana sowie ein
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