Karaoke
sodass wir wieder unsere alten Plätze einnehmen konnten. Das Ganze erinnerte stark an eine südamerikanische Telenovela, nur dass wir dabei ständig trinken mussten: zuerst, um den Nachbar zu beglückwünschen, dann, um ihn zu trösten.
Am Abend des siebten Juli, immer noch nicht nüchtern, stiegen wir in Ostberlin am Bahnhof Lichtenberg aus dem Zug. Die Stadt machte sofort einen unvergesslichen Eindruck auf uns. Überall herrschte eine merkwürdig feierliche Stimmung. Zwischen den Gleisen und auf den Bahnsteigen lagen überall Münzen, auch die Mülltonnen waren voller Geld. Betrunkene liefen über die Straßen und sangen Lieder. Viele waren bunt verkleidet und winkten uns freundlich zu. Die Autofahrer hupten jedes Mal, wenn wir die Straße überquerten, und schrien uns irgendwas auf Deutsch hinterher. Von diesem Bild überschäumender Freundlichkeit überrascht, genehmigten wir uns erst einmal ein deutsches Bier an einer Imbissbude. Der Besitzer wollte kein Geld von uns. Wir nahmen einen Bus und fuhren in Richtung Westberlin, um uns sogleich beide Teile der Stadt anzugucken. Je länger wir fuhren, umso weniger konnten wir das Verhalten der Leute um uns herum begreifen. Die Gastfreundschaft der Westberliner übertraf noch die der Leute im Osten und schien uns dermaßen übertrieben, dass wir beinahe paranoid wurden. Auf Umwegen landeten wir in einer Kneipe in Wilmersdorf. Der Wirt sprach uns sofort auf Englisch an. Er war klein und dick, aber wieselflink, und vor lauter Freude strahlte er so, als hätte er gerade eine Million im Lotto gewonnen. Wir hatten so gut wie kein Geld und ant
worteten deswegen auf seine Frage, was wir trinken wollten, höflich:
»No money, nothing.«
»Das macht doch nichts, ich lade euch ein! Wo kommt ihr her, meine Freunde?«, schrie er laut. »Trinkt und esst, so viel ihr wollt!«
Seine Gastfreundschaft grenzte an Wahnsinn. Ich nahm einen GinTonic, Mischa entschied sich für Campari-Orange. Diese zwei Getränke kamen oft in Romanverfilmungen ausländischer Autoren vor und wurden fast immer von den Guten getrunken, insofern konnte dabei nichts schief gehen. Wir kippten die Getränke in uns hinein, dankten höflich und wollten wieder gehen. Doch der Wirt war nicht zu bremsen, er brachte uns immer wieder neue Gin-Tonics und Campari-Orange, manchmal auch Gin-Orange und Campari-Tonic, bis uns das Zeug zu den Ohren rauskam. Alle Gäste in der Kneipe wollten mit uns anstoßen und tanzten zwischendurch immer wieder auf den Tischen.
»Sie verwechseln uns bestimmt mit irgendjemandem«, meinte Mischa schwankend, »irgendetwas stimmt hier nicht.«
Ich widersprach ihm: »Man darf nicht immer so misstrauisch sein. Es sind einfach gastfreundliche Menschen, etwas extravagant vielleicht, aber weiter nichts.«
Mischa kam mir mit einem neuen Deutungsversuch: »Vielleicht feiern sie heute ein wichtiges Fest, den Unabhängigkeitstag oder so was?«
»Aber an einem solchen Tag wären dann alle Läden zu. Außerdem, was für ein Unabhängigkeitstag? Von wem sollten sie hier abhängig gewesen sein, ist doch alles Demokratie hier«, fragte ich ihn.
»Keine Ahnung«, meinte mein Freund, »aber die Amerikaner feiern doch auch immer noch ihren Unabhängigkeitstag, seit sie die Indianer vertrieben haben. Wahrscheinlich sind die Deutschen von den Amerikanern unabhängig geworden.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Wenn es hier jeden Tag so lustig zugeht, dann möchte ich am liebsten gar nicht mehr nach Hause fahren, das ist doch das reinste Paradies.«
Wir wollten auch dem Wirt unsere Dankbarkeit und Begeisterung mitteilen, aber die allgemeine Betrunkenheit und unsere Sprachunkenntnis machten das schwer.
»Germany is very good«, sagten wir zu ihm.
Der Wirt freute sich und nickte zur Bestätigung mit dem Kopf. »Ja«, sagte er, »wir sind große Klasse, wir sind die Nummer eins!« Dabei zeigte er merkwürdigerweise auf den Fernseher, der über der Theke angebracht war. Im Rausch riefen wir dann die Tante von Mischa an, bei der wir übernachten wollten. Sie hatte keine Lust, auf uns zu warten. »Ich muss morgen früh zur Arbeit und gehe deswegen jetzt gleich ins Bett. Ich lasse für euch die Tür offen«, meinte sie. Ihre Adresse hatten wir uns noch in Moskau aufgeschrieben. Der freundliche Wirt erklärte uns den Weg. Trotz der späten Stunde hupten die Autos immer noch auf den Straßen, und lustige, betrunkene Autofahrer drehten gefährliche Kreise um uns herum. Zum Glück mussten wir nicht weit
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