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Karaoke

Titel: Karaoke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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Panik und Euphorie. Ich beschloss, um jeden Preis zu bleiben. Als die anderen Gitarrenschüler sich ihre Instrumente schnappten und nach Hause gingen, versteckte ich mich auf dem Klo. Bald war der Toilettenraum von Bier und Wein trinkenden Russländer-Fans voll. Ich ging raus und lief durch den Club. Immer mehr Leute strömten herein, sie saßen dicht gedrängt auf den Treppen, auf den Fensterbrettern oder einfach auf dem Boden. Die Tür zur Garderobe stand offen. Ich schaute vorsichtig hinein. Unser sonst sauber gefegter Probenraum war nicht mehr wiederzuerkennen: Überall lagen und standen volle, leere oder angebrochene Weinflaschen herum, es roch stark nach verbranntem Tannenholz und süßem Wein. Mindestens zwanzig Männer und Frauen saßen auf dem Boden. Sie rauchten, tranken und lachten. Mitten im Raum auf einem großen Berg von Klamotten saß eine kleine Hexe. Ihre langen schneeweißen Haare reichten fast bis zum Boden. Sie hatte kleine rote Augen und eine lange Nase, die sich ständig hin- und herbewegte. Die Hexe hielt eine Elektrogitarre in der Hand. Die Hexe war ein Mann. Vor ihm auf dem Boden saß ein hübsches Mädchen mit einer Militärmütze auf dem kahl rasierten Kopf. Sie sah mich und lachte.
    »Schau mal, Georg«, sagte sie zu der alten Hexe und zeigte mit dem Finger auf mich, »dein Publikum wird immer jünger!«
    Die Hexe Georg schaute in meine Richtung und verzog das Gesicht. »Eine Sperrholzgitarre! Ein geiles Instrument! Genau das Richtige für junge Talente. Kannst du sie mir ausleihen?«
    Die Hexe wollte eindeutig meine Gitarre.
    »Sie haben doch schon eine«, sagte ich und machte einen Rückzieher. Damals wusste ich noch nicht, wen ich da gerade kennen gelernt hatte. Erst viel später erfuhr ich, dass die kleine Hexe im Probenraum der unsterbliche Georg Ardanowskij gewesen war, der erste wahre Rockmusiker der Sowjetunion. Seine Band Russländer gilt als Vorbote des Rock 'n' Roll in der SU, mit ihr beginnen alle russischen RockEnzyklopädien. Es gibt nicht viele Menschen, die sagen können: Ja, ich
    habe in den Siebzigerjahren mal mit Georg beinahe meine Gitarre getauscht.
    Sein Konzert hat mich damals tief beeindruckt. Es war gerammelt voll und ich das einzige Kind im Saal. Alle waren wie elektrisiert, niemand wollte sitzen, jeder drängte nach vorne zur Bühne. Einige versuchten sogar, auf zwei riesengroße Lautsprechertürme zu klettern, fielen herunter und standen nicht mehr auf. Man hätte denken können, die komplette Belegschaft des Irrenhauses von nebenan befände sich im Saal. Und dabei hatte das Konzert noch gar nicht angefangen. Fünf Mann betraten die Bühne. Drei hatten ebenso lange Haare wie Georg und Gitarren vor dem Bauch hängen. Der vierte war ein Glatzkopf mit einer Narbe quer durch das Gesicht. Er erschien halb nackt auf der Bühne und setzte sich hinter das Schlagzeug. Ich stand im Gang vor der Tür, jederzeit bereit abzuhauen. Das kahle Mädchen mit der Militärmütze ging an mir vorbei, einen Klappstuhl in der Hand. Sie setzte sich vorne im Gang direkt vor die große Lautsprecherbox. Die Russländer liefen eine ganze Weile auf der Bühne hin und her, wechselten irgendwelche Kabel, schalteten ihre Instrumente ein und aus, prüften die Mikrofone. Ardanowskij sagte mehrmals »Hallo« und »Guten Abend«, das Publikum reagierte wild, pfiff und schrie.
    Das erste Lied kam ganz unerwartet. Plötzlich und ohne Vorwarnung haute der Glatzkopf volle Pulle auf seine Trommel, und die drei Gitarren jaulten auf — sie klangen wie ein abgeschossener Sturzkampfbomber kurz vor dem Aufprall auf Mutter Erde. Georg schnappte sein Mikrofon und schrie:
    Die gelbe Sonne, aaah! Der ewige Brand, Ich träume von Afrika, Ein abgefahrenes Land.
    Der Rest war nicht zu verstehen. Zwei Fenster zersprangen mit lautem Krach, und mir platzten fast die Ohren, doch die meisten Zuhörer fühlten sich sauwohl. Das kahle Mädchen mit der Militärmütze fiel von ihrem Klappstuhl und blieb einfach liegen. Ich hätte leicht verschwin
    den können, blieb aber im Gang stehen. Wie hypnotisiert beobachtete ich die Musiker auf der Bühne. Es war die erste Orgie, an der ich zwar passiv, aber doch teilnahm. An das, was danach geschah, erinnere ich mich kaum. Ich weiß nur noch, dass die Miliz ziemlich schnell aufkreuzte. Der Strom wurde ausgeschaltet. Sie zerrten die Bandmitglieder von der Bühne und drängten die Zuschauer in das Irrenhaus zurück. Im Foyer kam es noch zu einer Schlägerei, und draußen auf dem Hof

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