Karaoke
Sie sorgt für noch mehr Kontakte, weil man ein und dieselben Menschen zehnmal kennen lernen kann — und muss. Es ist aber nicht nur eine Krankheit. Vergessen und sich dann plötzlich wieder erinnern ist auch eines der schönsten Gefühle, die es gibt. Und so freue mich jedes Mal neu auf Stephan und Bambi. Vielleicht braucht man diese Erinnerungslücken sogar zeitweise, um die eigene Wahrnehmung zu schärfen. Mein ehemaliger Nachbar zum Beispiel, ein großartiger Mann und treuer Familienvater, verbarrikadierte sich regelmäßig in seiner Wohnung, wenn er betrunken war, und ließ niemanden herein. Sein Sohn schrie dann im Treppenhaus: »Mach auf, Papa, ich bin es! Dein Sohn Sascha!« und trat mit dem Fuß gegen die Tür.
»Wie heißen Sie noch einmal?«, hustete der Vater vorsichtig hinter der Tür.
»Sascha!«
»Wissen Sie was, Sascha, kommen Sie morgen wieder.«
Am nächsten Tag aber war alles wieder in Ordnung. Seine gelegentlichen Verbarrikadierungen gaben ihm die Kraft, auch weiterhin ein verlässlicher Familienvater zu sein.
Viele Künstler haben das Thema Vergesslichkeit schon vor mir thematisiert. Die meisten habe ich zwar vergessen, aber manche sind mir für immer in Erinnerung geblieben. Zum Beispiel der russische Nobelpreisträger Ivan Bunin: Er hat fast ausschließlich darüber geschrieben, und das in einer sehr schönen Sprache. Sein Held, ein älterer, etwas verlebter und wohlhabender Gutsbesitzer, pendelt ohne eine persönliche Angelegenheit durch die Dörfer und Städte. In den Hotels, in den Dorfkantinen oder einfach auf der Straße wird er stets von älteren Frauen aus dem Volk angesprochen: »Gnädiger Herr, kennen Sie mich etwa nicht mehr?« Er sieht sich die Frauen genauer an. Mein Gott! Plötzlich wird die Erinnerung wach: Wie er damals als junger, frischer und unverbrauchter Gutsbesitzer mit der Küchengehilfin Tanja oder Manja viele schöne Stunden verbrachte, die sein Herz höher schlagen ließen. Sie war eine wahre Schönheit gewesen, hatte lange Haare und Riesenbrüste gehabt, aber jetzt konnte er an der alten Hexe nichts mehr davon erkennen. Verfluchter Mist, denkt der romantische Gutsbesitzer
— nicht wörtlich, sondern in einer sehr schönen Sprache — und will alles schnell wieder vergessen.
Der englische Autor Evelyn Waugh hat einmal sehr rührend über eine neunzigjährige Gräfin geschrieben, die beschlossen hatte, für ihr ganzes Geld eine Silvesterparty zu veranstalten. Sie betrieb dafür in ihrem Schloss einen riesigen Aufwand: Bestes Essen wurde bestellt, hunderte von Kerzen persönlich angezündet und so weiter. Es kam aber keiner, außer zwei Leuten, die sie gar nicht eingeladen hatte. Die Gräfin schickte die ungebetenen Gäste nach Hause, wunderte sich über all die anderen nicht Erschienenen und starb. Vor dem Begräbnis fand ihr Enkel zufällig in ihrem Nachttisch einen ganzen Stapel Einladungen: Sie hatte vergessen, sie abzuschicken.
Neulich las ich das Buch eines modernen depressiven Autors, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe. In seinem Roman erfährt der Held, dass er sehr bald Alzheimer bekommt. Der Arzt schlägt ihm vor, seine wertvollsten Erinnerungen aufzuschreiben, die er vermissen würde. Der Held stochert daraufhin dreihundert Seiten lang in seinem Leben herum, auf der Suche nach dem einst Wertvollen, und begreift am Ende, dass er nichts aus diesem Haufen wirklich vermissen würde. Das will er dem Arzt mitteilen, der aber kann sich nicht mehr an den Patienten erinnern, weil er selbst irgendwie auch nicht mehr ganz bei Trost ist.
Was wollte ich eigentlich damit sagen? Dass der Riss an der Decke jede Woche größer wird.
Je tiefer der Wald, desto dicker die Partisanen
Jahrelang suchte mein Freund DJ Jurij nach einer passenden Wohnung am Prenzlauer Berg, die seinen Vorstellungen von einer idealen Bleibe entsprach. Er fand sie endlich in der Paul-Robeson-Straße. Das war bestimmt kein Zufall. Es gibt nicht viele Straßen auf der Welt, die nach bekannten Musikern benannt sind, abgesehen vielleicht von den unzähligen Mozartgassen, die es mittlerweile überall gibt. Den zeitgenössischen Musikern wird eine solche Ehre nur selten zuteil. Man munkelt zwar, dass die Engländer vorhaben, die berühmte Abbey Road in Paul McCartney Street umzubenennen, und in Moskau stand ich schon oft in einem Stau am neuen Platz der Superstars. In Berlin wurde dagegen der amerikanische Sänger Paul Robeson schon vor Jahrzehnten verewigt. In seiner Straße gibt
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