Karas Reich
so soll wenigstens eine Erinnerung an sie bleiben. Und das ist dieses Bild. Dieses wunderbare Gemälde, das uns die Königin in all ihrer Schönheit zeigt. Es soll die Zeiten überleben, es soll nicht verschwinden, und es soll auch nicht zerstört werden, wenn es zu der großen Katastrophe kommt.«
Bei dem letzten Satz war Gallas zusammengeschreckt. Er mußte sich fangen, um überhaupt sprechen zu können.
»Die… die große Katastrophe«, flüsterte er. »Davon höre ich nicht zum erstenmal. Auch die Königin hat davon gesprochen.«
»Ja, sie weiß viel, sehr viel sogar. Auch sie gehört zu den Auserwählten, die die große Katastrophe überleben werden. Es gibt keinen Kontinent, der so vielschichtig und voller Geheimnisse steckt wie Atlantis. Hier haben sich Götter, Dämonen und Menschen austoben können, hier haben sie zum erstenmal das ausgetragen, was sich in anderen Zeiten wiederholen wird, nur eben anders und nicht so direkt. Aber Atlantis kann nicht vergehen. Äußerlich schon, innerlich nicht, und so ist es auch mit diesem Bild. Es wird überleben.«
»Bei dir?« fragte Gallas.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Nicht, nicht hier.«
»Wo dann?«
»Deshalb bist du hier. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich dir den Weg zeigen werde. Du wirst es nehmen und auf ein Schiff bringen. Du wirst mit diesem Schiff so weit fortsegeln, bis du eine andere Küste erreichst, eine andere Welt. Du wirst auf eine Insel treffen und es dort verstecken. Damit ist deine Pflicht getan.«
»Soll ich dann wieder zurückkehren?« Gallas hatte genau zugehört. Sein Blick hatte einen glänzenden Ausdruck bekommen, als wollte er ein inneres Fieber wiedergeben.
»Das bleibt dir überlassen. Du kannst in der Heimat sterben oder in der Fremde.«
»Beim Untergang?«
Da hob der Alte die Schultern. »Niemand weiß, wann es soweit sein wird. Viele spüren es, daß sich die Zeit neigt, der Alptraum wird beginnen, und ich kann den Menschen nur raten, daß sie sich darauf vorbereiten. Das ist alles.«
»Danke.«
Der Alte streckte Gallas die Hände entgegen. »Hilf mir hoch, meine Knochen sind etwas schwach.«
Gallas tat es.
Vor ihm blieb der Weise stehen. »Du bist ein guter Mensch«, sagte er, »und ich habe die richtige Wahl getroffen. Laß dich jetzt nicht aufhalten, Gallas. Nimm das Bild, und schaffe es auf das Schiff. Versuche alles, um es in Sicherheit zu bringen.« Die Augen des Sprechers nahmen einen seltsamen Ausdruck an. Er schien in Welten zu schauen, die ausschließlich ihm bekannt waren. »Irgendwann«, flüsterte er, »irgendwann in einer fernen Zeit, an die wir nicht einmal zu denken wagen, wird dieses Bild wieder im Mittelpunkt stehen…«
»Wieso? Was kannst du sehen?«
»Nichts, Gallas, nichts. Es ist verschwommen. Es wird aber mit Kara zu tun haben und einem Mann, der sie gut kennt. Schicksalsfäden sind miteinander verbunden und bilden ein geheimnisvolles Netz, das immer wieder zusammenwächst, wenn man es an bestimmten Stellen zerstört. Es ist eben das Netz des Lebens, des Schicksals, dem keiner entrinnen kann. Nicht die Götter, nicht die Menschen…«
»Siehst du denn sonst nichts? Kann ich der Königin nichts sagen, wenn ich sie treffe?«
»Nein, es ist alles gesagt. Sie wird ihre Herrschaft über dieses Reich nicht antreten können. Das Netz des Schicksals hat sich eben anders verwoben, es tut mir leid.«
»Ja, schon gut.« Gallas senkte den Kopf. Wieder kam es sich so klein und unscheinbar vor. Er wollte es kaum hinnehmen, aber er mußte sich den mächtigen Tatsachen beugen.
»Geh, noch kannst du es schaffen!«
Gallas stellte keine Frage mehr. Er drehte sich um und wandte sich dem Bild zu. Bis zur Küste und zum Hafen war es ein weiter Weg. Er würde das Ziel mitten in der Nacht erreichen. Dort kannte er Fischer, die mit ihm auslaufen würden.
Wegsegeln. Andere Welten.
Keine Angst, kein Tod…
Gallas hob das Bild an und schaute dem Alten noch einmal von oben her in das faltige Gesicht.
Der Weise lächelte. »Es ist ein Abschied, mein junger Freund. Du wirst mich nicht mehr lebend wiedersehen. Meine Zeit ist vorbei. Ich werde aber mit gutem Gewissen sterben, denn ich weiß, daß die Erinnerung an Karas Reich überleben und in einer fernen Zeit wieder aufblühen wird. Die neuen Menschen werden noch einmal lernen müssen zu leben. Ob ihr Leben aber besser sein wird als das unsrige, das wage ich zu bezweifeln.«
Als der alte Mann verstummte und den Kopf drehte, wußte Gallas, daß auch für ihn
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